Mittwoch, 1. Juli 2020

Hanna-Gemeinde Altstadt-West. Eine Utopie.

Aus: Wollbrückener General-Anzeiger, 25.10.2028

Obwohl das Wahrzeichen der westlichen Wollbrücker Altstadt, die neobarocke St.-Martin-Kirche, schon recht alt ist, riecht es irgendwie neu. "Das sind die Stühle, die sind letzte Woche endlich gekommen", lacht Kantorin Susanne Meyer-Schliepenrath. Die Stühle, das war eines der bautechnischen und finanziellen Großprojekte des letzten Jahres. Die altehrwürdigen Holzbänke wurden aus der Kirche entfernt und an Interessierte verkauft - der finanzielle Grundstock für die neue Bestuhlung. "Flexible Sitzanordnungen passen einfach besser für uns", erklärt Meyer-Schliepenrath.

Wenn man die Kirche zu irgendeiner Tageszeit betritt, dann ist die Chance groß, dass man hier Musik hört. "Am Dienstagmorgen trifft sich der Seniorensingkreis. Danach ist die Kirche zum Üben reserviert für Studierende der Musikhochschule oder Orgelschülerinnen aus den Nachbargemeinden. Um zwölf Uhr mittags findet unter der Woche geistliche Musik statt, entweder ein kurzes Orgelkonzert oder eine Darbietung des Kammerchors in kleiner Besetzung", zählt Meyer-Schliepenrath auf. "Um 14 Uhr bieten wir zusammen mit dem Trägerverein des Offenen Ganztags musikalische Früherziehung für Grundschulkinder an. Manche von denen bleiben dann direkt zur 'Spatzenkantorei', einem unserer Kinderchöre. Um 19 Uhr probt die Hanna-Kantorei, unser großer klassischer Kirchenchor - im Moment  'Die letzten Dinge' von Louis Spohr, für unser Konzert am Ewigkeitssonntag." Und das ist nur der Dienstag. An anderen Tagen treffen sich Streichorchester, Gospelchor, eine Tanz-Meditations-Gruppe, an manchen Wochenenden ist die Kirche von Jugendlichen belagert, die ein Musical proben. "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche eher projektmäßig eingebunden werden können", erklärt die Kantorin.

In der Sakristei ist eine ganze Wand den Pfarrern der Gemeinde gewidmet. Bis 1875, dem Einweihungsjahr, lässt sich die Reihe zurückverfolgen. Aus schwarzen Bilderrahmen blicken vorwiegend ältere Männer im Talar streng in den kleinen Raum. Das erste Farbfoto zeigt den letzten Pfarrer von St. Martin, der bis 2023 hier Dienst getan hat - und nicht ganz so streng guckt. Das jüngste Foto in der Reihe zeigt die Kantorin. An der pastoralen Ahnengalerie wird deutlich, was die Hanna-Gemeinde in der Altstadt von allen anderen evangelischen Kirchengemeinden in Deutschland unterscheidet.

"Die Gemeinde wird nicht von einem Pfarrer geleitet, sondern von der Kantorin", erklärt Dr. Bertha Recht, Dekanin des Kirchenkreises Wollbrück und Region. "Das ist so in der Form einmalig - zumindest für die evangelische Kirche, in jüdischen Gemeinden etwa spielt der Kantor eine weitaus wichtigere Rolle als der Rabbiner." Die Idee zu dieser besonderen Form von Gemeinde reicht bis ins Jahr 2020 zurück. "Mitten in der Coronakrise ist deutlich geworden, in welchem bisher nicht gekannten Ausmaß wir es mit Mitgliederschwund und zurückgehenden Kirchensteuereinnahmen zu tun haben würden." Die Kirchenmusik an St. Martin, eins der kulturellen Aushängeschilder der Stadt, war akut bedroht - ebenso wie viele andere Gemeinden in der Region. "Es war klar: So kann es nicht weitergehen. Und wir haben gedacht: Verlieren können wir ohnehin nichts, also versuchen wir einmal, ganz neu zu denken." Weil gut gemachte Kirchenmusik immer noch Menschen begeistern kann, entschied sich der Kirchenkreis, eine Profilgemeinde der ganz neuen Art zu gründen. Leicht war das nicht, wie sich Recht erinnert. "Natürlich gab es da eine ganze Menge theologischer und rechtlicher Fragen zu klären - nach unserem Kirchenrecht muss eine Gemeinde einen Pfarrer oder eine Pfarrerin haben." Bis in die höchsten juristischen Gremien der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, wurde das Projekt interessiert, bisweilen auch kontrovers diskutiert. Nach zähen Verhandlungen gaben die Kirchenoberen schließlich im Jahr 2023 grünes Licht. "Wahrscheinlich auch mit einigem Muffensausen", schmunzelt Recht. Und mit strengen Auflagen. Eine davon war, das Projekt zunächst für eine Probezeit von drei Jahren anlaufen zu lassen - unter fachkundiger Leitung eines Kuratoriums.


"Die Erfahrung ist, dass Chöre und Musikgruppen in Gemeinden oft etwas darstellen, was der Kirchenreformer Philipp Jakob Spener als 'ecclesiola in ecclesia' bezeichnet hat, als 'kleine Kirche in der Kirche', also ein Treffpunkt der besonders Engagierten", weiß Dr. Jacqueline Krusowsky. Diesen ungeheuren Schatz an Engagement zu heben, war für die Professorin für Praktische Theologie an der Universität Göttingen Motivation genug, den Vorsitz im Kuratorium zu übernehmen. Auch, wenn sie mit Herzblut dabei war und ist ("Mittlerweile singe ich sogar im Sopran mit..."), hat sie gerade in den Anfangsjahren gegen viel Gegenwind ankämpfen müssen. "Das war nicht nur schön", gesteht sie. Gemeinden liefen Sturm gegen die Idee, so gut wie alle Kirchenmusik an einen Ort zu konzentrieren. Der Pfarrverein der Landeskirche reichte Klage beim Kirchengericht der EKD ein, an Krusowskys eigener Fakultät gab es eine Unterschriftensammlung, deren Urheber ein "schleichendes Aushöhlen der pastoralen Profession" befürchteten. Wieder andere hielten es für unevangelisch, eine Gemeinde zu gründen, die nur für musikalisch Interessierte interessant ist. "Die Vorstellung von einer 'Kirche für alle' hält sich hartnäckig", sagt Krusowsky, "dabei bietet auch jede andere Kirchengemeinde streng genommen nur ein Programm für ein-zwei Milieus, also für einen Bruchteil ihrer Mitglieder."

Auch intern wurde kontrovers gestritten - kein Wunder bei einem deutschland-, vielleicht sogar europaweit einmaligen Projekt. "Da war zum Beispiel die Frage, ob die Gemeinde Sonntagsgottesdienste haben muss oder nicht. Und ob es nicht doch jemand Ordiniertes braucht, um in der Gemeinde Abendmahl feiern zu können", berichtet Bertha Recht. "So ein Unsinn", empört sich Thomas Rawinger, Tenor in der Kantorei und Kirchenvorstandsmitglied der ersten Stunde, noch heute. "Wenn ich eine Bachkantate singe, dann ist das für mich geistlich genausoviel wert wie eine Predigt. Und wenn dann auf dem Chorwochenende der Wunsch entsteht, gemeinsam Abendmahl zu feiern - warum soll dann extra ein Männlein im Talar eingeflogen werden, der über dem Esspapier ein paar Worte spricht?" Wer ihm zuhört, bekommt einen kleinen Eindruck von dem gewichtigen Fragen, um die hier gestritten wurde.

Auch organisatorisch musste vieles neu gedacht werden. "Es gab ja anfangs keine Mitglieder, die Kirchensteuer zahlen", erinnert sich Krusowsky. Und das Kirchenamt hatte deutlich gemacht: Außer einer Anschubfinanzierung aus einem Innovationsfond gibt es keine Dauerunterstützung. Gelöst wurde das Problem durch ein ausgeklügeltes System: Wer in den Chören fest mitsingen möchte, muss Mitglied der Gemeinde werden und zahlt einen monatlichen Beitrag, dessen Höhe sich nach dem Einkommen richtet. "Auch Eltern, die ihre Kinder hier zur Früherziehung schicken, legen wir eine Mitgliedschaft nahe", sagt Kantorin Meyer-Schliepenrath. Gerade das sorgte in den Gemeinden für Unmut, deren Mitglieder nach St. Martin wechselten. "Da geht es um Existenzängste, um Revierverteidigung, ach, da spielt so vieles eine Rolle", seufzt Professorin Krusowsky. "Und so lange andere Gemeinden das als 'Verlust' sehen, können Sie diskutieren, so viel sie wollen. Dabei spielen wir ja sozusagen alle im selben Verein." Und einer der Gründe, warum das Kirchenamt das Projekt erlaubte, war das Anliegen, alternative Kirchenfinanzierungen auszuprobieren. Um den umliegenden Gemeinden entgegenzukommen, wurde eine pragmatische Lösung gefunden: "Statt selbst Gottesdienste am Sonntagmorgen zu feiern, gastieren Chöre und Ensembles unserer Gemeinde an zwei Sonntagen im Monat in anderen Kirchen. So bekommen auch Gemeinden, die sich keine eigenes Kantorat leisten können, eine Chance, die sie sonst gar nicht hätten."

Rund 500 Mitglieder zählt die Gemeinde heute. Deutlich weniger als die umliegenden Gemeinden. Dafür sind rund 85% der Mitglieder hier regelmäßg aktiv. Weil jedoch auch die Mitgliedsbeiträge und Einnahmen aus Konzerten nicht reichen, gibt es heute insgesamt fünf verschiedene Förder- und Unterstützerkreise. Ein kleiner Geniestreich war es, die im Unterhalt kostenintensive Kirche an einen Denkmalverein zu veräußern. Dieser überlässt der Gemeinde die Kirche für symbolische Monatsmiete von einem Euro - "aber schon die Heizkosten sind nicht zu verachten", stöhnt Dekanin Recht. Auch für andere Musikgruppen ist die Gemeinde offen. "Es muss aber klar sein: Wir vermieten nicht einfach Probenräume. Wer hier mitmachen will, verpflichtet sich auch, punktuell mit uns zusammen zu arbeiten." In der Vergangenheit sind dabei so spannende Projekte wie eine Konzertreihe mit Orgel und Percussion entstanden, und wenn Kantorin Meyer-Schliepenrath für ein Jugendmusical eine Band braucht, dann hat sie gleich drei, die sie fragen kann.

Ein weiteres Problem war die Frage nach der Besetzung der Leitungsstelle. "Uns war klar, dass wir nicht nur jemanden brauchten, der hochkarätige Kirchenmusik kann, sondern auch ausgeprägte Leitungsfähigkeiten besitzt", erklärt Kirchenvorstand Rawinger. "Und bei Frau Meyer-Schliepenrath kam beides auf eine außergewöhnliche Art und Weise zusammen." Die Kantorin winkt ab. "Wissen Sie, wenn Sie einen Chor leiten, dann lernen Sie ganz automatisch ganz viel, darüber, wie man mit Menschen arbeitet." Trotzdem ist sie froh darüber, dass der Kirchenkreis ihr zu Beginn ihres Dienstes eine Fortbildung in systemischer Organisationsberatung ermöglichte. "Da habe ich viel gelernt, von dem ich heute noch profitiere", resümiert sie. Dass sie insgesamt weniger Musik macht als auf einer normalen Kantorenstelle, ist für sie kein Nachteil. "Das ist ja in jedem Beruf so. Und außerdem verstehe ich meine Arbeit durchaus als Dienst an der Kirchenmusik - nur eben an teilweise anderer Stelle." Durch die solide Finanzierung kann die Gemeinde außerdem andere Musiker*innen beschäftigen, die Chöre leiten und Unterricht geben. Die Experimentierfreudigkeit der Gemeinde hört hier allerdings noch lange nicht auf.

"Das machen wir nochmal bitte", ruft Stephan Apogeseks und schaut mit gespielter Strenge über den Rand seiner Hornbrille. Das kleine Orchester, das vor ihm sitzt, sieht anders aus, als man das von Orchestern in der Regel gewohnt ist. Viele tragen zerschlissene Kleidung, neben einem Blockflötisten steht ein Einkaufswagen voller Pfandflaschen. "Ich arbeite hier mit Straßenmusikern im wahrsten Sinne des Wortes", eklärt der 32-jährige. Apogeseks ist Musikdiakon, das heißt, er hat nach seinem Studium der Kirchenmusik auch eine Ausbildung zum Diakon absolviert und arbeitet mit Bedürftigen. Wobei er selbst dieses Wort ablehnt: "Ich frage danach, was die Leute zu geben haben. Und was sie verwirklichen wollen." Für das Obdachlosenorchester, dessen Mitgliedern ein Musikgeschäft gebrauchte Leihinstrumente zur Verfügung stellt, hat der Musikdiakon Werbung bei der Tafel gemacht. Manche von ihnen können keine Noten lesen, andere können besser mit ihrem Instrument umgehen als Apogeseks selbst. Petrej Iwanowitsch zum Beispiel war in seiner Heimat Konzertgeiger. In Deutschland hat er meist in der Fußgängerzone gespielt, nun unterstützt er Apogeseks im Orchester. Für ihn ist die ehrenamtliche Arbeit eine willkommene Angelegenheit, die Musik nicht völlig aus dem Blick zu verlieren und zugleich seine Liebe zur Kunst weiterzugeben. "Menschen brauchen nicht nur Geld und Brot, um zu leben", sagt er nachdenklich. "Was sind wir ohne Kultur? Wir ermöglichen hier ein Stück geistliches Überleben." In der Adventszeit besuchen Apogeseks und Iwanowitsch mit ihrem Orchester und einem kleinen Projektchor die Seniorenheime der Umgebung. "Kulturelle Diakonie", so nennt Professorin Krusowsky das. "Wir haben nach ein paar Jahren eingesehen: Wir sind hier mitten in der Innenstadt. Die Not liegt quasi vor der Tür. Da haben wir uns gefragt: Was können wir mit dem, was wir haben und was wir sind, unserem diakonischen Auftrag gerecht werden?"

Eine ältere Dame betritt die neobarocke Kirche, in der es gerade ausnahmsweise ruhig ist. Sie verzieht das Gesicht, als sie die frisch lackierten Stühle riecht und sieht. "Das soll eine Kirche sein?", grummelt sie vor sich hin. Dasselbe, das bis heute Leute fragen, wenn sie hören, dass die Hanna-Gemeinde keinen Pfarrer hat. "Das ist für die Leute auch nach Jahren noch ein Thema", lacht Kantorin Meyer-Schliepenrath, die vor Diskussionen nicht zurückschreckt. "Manchmal, wenn Menschen sich wirklich auf ein Gespräch einlassen, entstehen dabei interessante Unterhaltungen darüber, was Kirche eigentlich ist. Und über das Priestertum aller Gläubigen." Dann verabschiedet sich Meyer-Schliepenrath. Sie muss ein Gespräch mit dem Kirchenvorstand führen und einen Streit zwischen Gemeindegruppen schlichten: Die Leiterin des Seniorenchors hat sich beschwert, dass die Jugendband ihre Instrumente nicht richtig wegräume und beim letzten gemeinsamen Konzert außerdem viel zu laut gespielt habe. In mancher Hinsicht ist die Hanna-Gemeinde in St. Martin dann doch auch eine sehr normale Gemeinde.

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