Freitag, 8. August 2014

"... wie durch einen SPIEGEL"? Gegen ein meinungsstarkes, aber faktenschwaches Plädoyer

(c) SPON/spiegel.de

In einem kürzlich auf SPON erschienenen Kommentar hält Frank Patalong ein Plädoyer für eine Trennung von Kirche und Staat, in dem er, passgenau ins Sommerloch zielend, wenig Neues, dafür aber viel Altbekanntes und genauso altbekannt Undifferenziertes zum Thema "Kirche und Staat" ventiliert. 

Undifferenziert ist vor allem die Rede von "Religion" und "religiösen Menschen". Schon im Eingangsabsatz heißt es programmatisch: 
Für religiöse Menschen haben die Werte ihres Glaubens eine höhere Wertigkeit als nicht-religiös definierte Werte. Sie verstehen ihre Gebote als Gesetze. Kollidieren diese mit den geltenden Gesetzen, stellen sie ihre Regeln oft genug über das weltliche Recht. Klar, denn Gesetze sind nur von Menschen gemacht und können sich ändern. Der Glaube aber fußt - davon gehen Gläubige aus - auf Gott oder Göttern.
Welche konkreten Beispiele Patalong hier vorschweben, muss der geneigte Leser oder die geneigte Leserin sich selbst ausmalen. Im weiteren Verlauf des Artikels nennt er die (zu Recht so bezeichnete) "Farce um einen muslimischen, westfälischen Schützenkönig" (Kommafehler im Original) als Beispiel, die jedoch mehr über das abstruse Selbstverständnis des deutschen Schützenwesens als über "die Religion" aussagt, sowie das kirchliche Arbeitsrecht. "Viele Religionen", so Patalong weiter, "begegnen Menschen, die ihnen nicht folgen, mit Geringschätzung." Mal abgesehen von der sprachlogischen Petitesse, dass "Religionen" keine denkenden und handelnden Subjekte sind - er übergeht dabei den Umstand, dass wahrscheinlich für so gut wie jeden Menschen die eigenen Werte, die eigenen kulturellen und ideologischen Referenz- und Deutungsrahmen, erst einmal schlüssiger und damit ernst zu nehmender erscheinen als andere. Das betrifft nicht nur religiöse Begründungszusammenhänge, ein treuer Anhänger der Partei X wird auch der Meinung sein, dass das Grundsatzprogramm seiner Partei besser begründet und damit aussagekräftiger ist als diejenigen der Parteien Y und Z. 
Natürlich gibt es potenzielle Krisensituationen, in denen staatliches Recht und persönliche Überzeugungen miteinander kollidieren. Das betraf zum Beispiel, bis zur Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in Friedenszeiten 2011, in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends allein über eine Million junger Männer, die als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen anerkannt und zum Ersatzdienst zugelassen wurden. Der öffentliche Diskurs über gesellschaftlich konsensfähige Grundwerte und deren Ausgestaltung aber gehört zum Markenzeichen eines demokratischen Staates, denn:

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"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Das ist das so genannte Böckenförde-Theorem, staats-kirchenrechtliches Handbuchwissen. Deswegen ist die Bildunterschrift in Patalongs Artikel ("Kruzifix im Klassenraum: Deutschland ist kein säkularer Staat") irreführend und falsch: Deutschland ist ein säkularer, aber kein laizistischer, atheistischer oder antireligiöser Staat - die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit ist auch und vor allem eine positive. Aber dazu später mehr.

Natürlich gibt es kleine fundamentalistische Splittergruppen, die solche Kollisionspunkte öffentlichkeitswirksam zum Grundsatzprogramm erheben und ethische Randprobleme zum Hauptkampfplatz einer eschatologischen Schlacht der Guten gegen die Bösen erklären. Dazu gehört aber gerade die evangelische Kirche nicht, seit der Konfessionalisierung, über Kaiserreich, Weimarer Republik und Bundesrepublik (und, Gott sei's geklagt, auch in der Diktatur dazwischen) eine der staatstreuesten Institutionen überhaupt.

"Auch in diesem Land sind Nicht- und Andersgläubige häufig genug Leidtragende religiös definierter "Gesetze", denen sie eigentlich gar nicht unterstehen", so Patalong weiter. Hier muss man ein wenig mehr Fantasie aufbringen, um darauf zu kommen, was er meint. Die Rede ist vom kirchlichen Arbeitsrecht: 
"Kirchen gehören zu den größten Arbeitgebern des Landes, von ihren Angestellten verlangen sie eine religionskonforme Lebensweise. Das ist zu rechtfertigen, wenn es um kirchliche, mit der "Verkündigung" verbundene Ämter und Funktionen geht. Nicht zu rechtfertigen ist es, wenn die Kirche wie im Falle von Krankenhäusern oder Kindergärten in staatlich finanzierten Einrichtungen ihre religiösen Regeln zum Gesetz erhebt."
Man kann darüber diskutieren, welche Funktionen und Ämter nicht mehr Anteil am kirchlichen Verkündigungsauftrag haben. Bei Pfarrer_innen, Kirchenmusiker_innen, Pädagog_innen dürfte der Fall klar sein. Dann müssten aber Erzieherinnen und Erzieher genauso darunter fallen, und es wird schwer sein, das arbeitsrechtlich auszuhebeln: Jeder Betrieb kann von seinen Arbeitnehmer_innen ein gewisses Maß an Loyalität verlangen, so können etwa unternehmensschädigende Äußerungen auch in der freien Wirtschaft durchaus ein Kündigungsgrund sein. Stärker verankert sind solche Loyalitätspflichten bei so genannten Tendenzbetrieben, d.h. bei "Unternehmen und Betrieben, die unmittelbar und überwiegend [...] politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder [...] Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerungen [...] dienen" (§ 118 BetrVfG). 

Wenn Patalong schreibt: "Mit sagenhafter Dreistigkeit hebeln kirchliche Arbeitgeber Tarifverträge aus", dann ist das leider, leider nicht falsch; eine Studie zum kirchlichen Arbeitsrecht der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2012 hat gezeigt, dass etwa die Diakonie ihren "Dritten Weg" (d.h. eine besondere Form der Tariffindungspolitik, bei der auf das Mittel des Arbeitskampfes zugunsten von Schlichtungsprozessen verzichtet wird) bewusst und erfolgreich als Wettbewerbsvorteil nutzt. Das ist nicht nur gegen die ratio legis des kirchlichen Arbeitsrechts, sondern ausgenommen schäbig und läuft dem Verkündigungsauftrag aller kirchlichen Organe diametral zuwider. 

Patalong schreibt weiter, und dann wird es wieder falsch:
"Wir leben keineswegs in einem säkularen Staat, der allen Religionen und Überzeugungen eine gleichberechtigte Bühne bietet. Christliche Kirche und Staat sind in Deutschland nicht getrennt. Steuerzahler finanzieren die Gehälter der christlichen Priester und Religionslehrer aus dem Topf für Beamte, nicht durch die Kirchensteuer."


In der Praxis ist es in der Tat so, dass bestimmte Religionsgemeinschaften mehr Rechte haben als andere. Das liegt daran, dass nicht alle Religionsgemeinschaften die Kriterien erfüllen können oder wollen, die an den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts geknüpft sind. Im entsprechenden Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung, der als Ergänzung zum Art. 140 des Grundgesetzes Gültigkeit behält, heißt es: 
"Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten."
Dass nicht alle Religionsgemeinschaften als Partner des Staates im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips in Frage kommen, liegt also vor allem erst einmal an organisatorischen Gründen: Nicht jede Religionsgemeinschaft ist von ihrem Selbstverständnis, aber auch von ihren Mitgliederzahlen her in der Lage, staatstragende Aufgaben stellvertretend zu erfüllen. Den Status als KöR haben dabei noch weitaus mehr Gemeinschaften, als man so denkt, darunter die jüdischen Kultusgemeinden, etliche Freikirchen, die Baha'i und einige Humanistenverbände. Dass der Staat "die Gehälter der christlichen Priester und Religionslehrer aus dem Topf für Beamte, nicht durch die Kirchensteuer" finanziert, stimmt nur zum Teil: Es gibt aufgrund von rechtsgültigen Reparationszahlungen m.W. vor allem in der katholischen Kirche Stellen, die von staatlichen Geldern finanziert werden. Das sind aber Einzelfälle - ich kann mit großer Sicherheit versprechen: Für mein Gehalt kommt die Kirche auf. Dass die Religionslehrer_innen vom Staat bezahlt werden, versteht sich von selbst - immerhin nimmt auch der Staat mit seinen Schulen deren Dienste in Anspruch. A propos Religionsunterricht - auch darauf kommt Patalong zu sprechen: 
"Die Steuerzahler finanzieren auch den Religionsunterricht, dessen Aufgabe es ist, nachwachsende Kirchenmitglieder mit Glaubensinhalten zu füttern. [...] Nichtgläubige werden genötigt, am Religionsunterricht teilzunehmen - oft mit erheblichen Nachteilen für den Zeugnisdurchschnitt."
Um die Gemüter zu beruhigen: Es ist nicht Aufgabe des Religionsunterrichtes, für Nachwuchs bei der Kirchenmitgliedschaft zu sorgen. Der RU steht, genau wie jeder andere Unterricht, unter dem Vorbehalt des Überwältigungsverbotes - missioniert wird also nicht. Es ist auch vollkommener Unsinn, wenn Patalong behauptet, Nichtgläubige würden genötigt, am Religionsunterricht teilzunehmen - auch dafür sorgt die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit: Wer Gewissensgründe hat, kann jederzeit, sofern er oder sie nicht an einer Schule in konfessioneller Trägerschaft ist, den Religionsunterricht abwählen; die Schule hat dann für eine adäquate Beaufsichtigung zu sorgen, nicht jedoch dafür, dass jede_r Schüler_in einen weltanschaulichen Unterricht passgenau nach eigenem Belieben erhält.

Dass die Teilnahme am Religionsunterricht mit "erheblichen Nachteilen für den Zeugnisdurchschnitt" verbunden sei, wäre mir neu. Ich kann hier nur ebenso diffuse Mutmaßungen anstellen wie Patalong: Meiner Wahrnehmung nach ist "Reli" immer noch eins der Fächer, in denen der Notendurchschnitt ziemlich hoch ist (was bei manchen Theologiestudierenden zu bösen Überraschungen führt, wenn sie mit ihren 14-15 Punkten  im vierten Abiturfach von der Schule an die Universität kommen) - und meiner Erfahrung nach sind die besonders gläubigen Schüler_innen nicht unbedingt diejenigen, die im Religionsunterricht besonders gute Noten einheimsen, denn dort geht es nicht um Bekenntnistreue, sondern um kritische Reflexionsfähigkeit.

Dass Religionsunterricht in konfessioneller Verantwortung stattfindet, also vom Staat an die Religionsgemeinschaften delegiert wird, ist im Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) festgelegt und hängt, wiederum, mit oben genanntem Böckenförde-Theorem, genauer gesagt mit den Erfahrungen eines korrumpierten Staates unter dem NS-Regime zusammen: Die Bundesrepublik erlegt sich selbst eine ideologische Selbstbeschränkung auf. Auch hier gilt wieder: Theoretisch kann jede Religionsgemeinschaft, die bestimmte Anforderungen erfüllt, solche Dienste übernehmen - ein großes Problem des muslimischen Religionsunterrichts ist, dass es keine übergeordnete Organisation gibt, die diesen verantworten könnte, weswegen man hier auf Übergangs- und Kompromisslösungen setzt.

Zur Kirchensteuer fällt Patalong ein:
"Die ist eine Art Mitgliedsbeitrag und als solcher nur insofern zu beanstanden, als der Staat diesen eintreibt - er tut das für keinen anderen Verein."

Fairer Weise muss man dazu sagen, dass der Staat sich das von den Kirchen gut bezahlen lässt. SPON hat das korrigiert und weist am Ende des Artikels darauf hin, dass der Staat dafür etwa vier Prozent des Gesamtkirchensteueraufkommens erhält - und damit 2013 dann immerhin knapp 200 Millionen Euro verdient hat, allein an der evangelischen Kirche. 
Nur: Die nachgeschobene Korrektur bringt insofern wenig, weil das Kind schon in den Brunnen, bzw. selbiger vergiftet ist. Das spricht nicht für Patalongs Argumentation, die in weiten Teilen populistisch und unsauber ist. 

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Patalong hat auch recht, wenn er schreibt, dass viele kirchliche Handlungsfelder staatlich refinanziert und damit "vom Steuerzahler" gestemmt werden, und man sollte den Hinweis ruhig ernstnehmen und fragen, wie offen Kirche wirklich damit umgeht, dass sie einen Großteil ihrer KiTas und Krankenhäuser nur zu einem (manchmal sehr geringen) Teil aus eigener Tasche bezahlt. Seine Entrüstung darüber, dass der Steuerzahler "den Missionsbetrieb in kirchlichen Krankenhäusern" bezahlt, ist unsachgemäß und schlichte Meinungsmache - mit Steuergeldern wird kein Missionsbetrieb bezahlt, sondern Ärztinnen, Krankenpfleger, Verwaltungsangestellte, technische Gerätschaften - das alles in Einrichtungen, in denen sich Jeder und Jede auch ohne Kirchenmitgliedschaft behandeln lassen kann. Dass man in einem sozialen System immer auch für Einrichtungen und Dienstleistungen mitzahlt, die man vielleicht gar nicht selbst in Anspruch nehmen will, liegt in der Natur der Sache, und natürlich kann man sich mit Recht darüber ärgern. Ich zum Beispiel zahle einen Rundfunkbeitrag, dessen Großteil für Sendungen auf den Kopf gehauen wird, die ich mir nicht einmal gefesselt vor dem Fernseher angucken würde, und ich finanziere Parteien, die ich nicht im Traum wählen würde.

Unterm Strich verwundert es dann wenig, dass das Schlussplädoyer ähnlich meinungsstark und faktenschwach ausfällt wie der Rest:
Zur Chancen- und Rechtsgleichheit gehört es, die Religionen vom Staat zu trennen und auf ihren Platz zu verweisen: Dann dürfen sie wie andere Vereine auch um Mitglieder werben - ohne staatliche Finanzierung durch Steuergelder, ohne Sonderrechte.
"Kirche ist kein Kaninchenzüchterverein!" dieses Mantra bin ich schon fast reflexartig versucht auszurufen. Aber nicht nur aufgrund ihres Selbstverständnisses: Die beiden großen christlichen Kirchen machen zusammen (nach dem Staat selbst) den zweitgrößten Arbeitgeber im Land aus und nehmen staatstragende Funktionen wahr. Als solche ist es ihr gutes Recht, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen - wie übrigens, auch da hinkt der Vergleich mal wieder, auch gemeinnützige oder mildtätige Vereine jedweder Couleur in den Genuss staatlicher Zuwendungen oder Erleichterungen kommen können.

Trotz aller sommerlochtypischen Oberflächlichkeiten erinnert Patalongs Artikel an ein paar theologische Hausaufgaben und Klärungsprozesse, die zu einem Großteil den Kirchen noch bevorstehen: Das kirchliche Arbeitsrecht ist gegenwärtig Gegenstand erhitzter Debatten - und das ist gut so, denn da kann und darf nicht alles so bleiben. Darüber hinaus müssen Kirche und institutionalisierte Diakonie ihr Verhältnis zueinander immer wieder klären. Und der Status einer Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechts ist in einer sich verändernden gesellschaftlichen Situation nicht nur extern juristisch, sondern auch intern theologisch plausibel zu machen. Die evangelische Kirche werde "nie wieder Behördenkirche" sein dürfen, hat Martin Niemöller nach dem Zweiten Weltkriegt gesagt. In Zeiten, in denen die Basisarbeit vor Ort mehr denn je von langwierigen und langweiligen Strukturreformprozessen blockiert wird, beginnt man zu ahnen, warum...

5 Kommentare:

  1. Vielen Dank für diesen Kommentar. Es ist bloss so schade, dass SPIEGEL und SPON nichts darauf geben...

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  2. Auch die korrigierte Fassung bzgl. Kirchensteuereinzug auf SPON ist falsch: Die Kirchen sind nicht die einzigen religiösen Gemeinschaften, die ihre Steuern einziehen lassen. Siehe wikipedia Kirchensteuer.

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  3. Bravo! Sehr guter Artikel!

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  4. Kirche ist ein Verein fürs Geisterbeschleimen. Und daher genauso wichtig wie Schleimpilzzüchtergruppen und Gummifetischisten. Und ja, staatstreu waren sie immer, schön fest an dem After der Macht, sogar im Dritten Reich.

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    1. Ich neige das Haupt vor so viel Weisheit und Sprachgewalt...

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