Montag, 22. September 2014

Warum früher nicht alles besser war und eine Kindheit auch nach 1980 noch glücklich sein kann

Alle Jahre wieder packt Einen oder Eine die große Lust, etwas über die „Jugend von heute“ zu schnarren und die Tages- oder Wochenpresse, wenn die Sterne besonders ungünstig stehen, sogar den Büchermarkt um die weder besonders neue, noch besonders fundierte Erkenntnis zu bereichern, dass früher alles besser gewesen sei. 

Klagen über die Jugend des jeweiligen Heute sind so alt wie die Schriftstellerei im Ganzen, neu sind allenfalls zwei besonders nervige Phänomene: Zum einen das Alter der Wüstenrufer. Früher waren es vornehmlich elegante und weltläufige Herren, die im Spätherbst eines langen Lebens zum Lamento über die Nachgeborenen ansetzten. Diesem kulturpessimistischen Männergesangsverein, in dem schon Sokrates den zweiten Tenor sang, gesellen sich aber seit Neuestem Angehörige der geschassten Generation selbst hinzu, die sich als einsame Rufer in der Wüste inszenieren, eigentlich aber nur aufgeregt mit den Fingern schnipsen, auf ihrem Platz auf und ab hüpfen und den grandseigneurs des Feuilletons wahlweise die Tasche hinterhertragen oder vor ihnen auf die Knie gehen – was immer sich schon in der eigenen Schulzeit als probate Garantie für gute Kopfnoten bewährt hat. 

Den Reigen eröffneten weiland, reichlich altbacken und, wie ein FAZ-Rezensent mit dem großartigen Namen Ernst Horst befand, „wie die Spießer von 1964“ nörgelnd, das Autorenduo Anne Weiss und Stefan Bonner mit ihrem Bestseller „Generation Doof“ von 2008. Schon damals war das Etikett „Generation plus Buchstabe/Adjektiv/Substantiv/irgendein anderes Wort“ genauso blöde, abgeschmackt und pauschal wie die Rede von der „Jugend von heute“. Das aber hat weder Weiss/Bonner, noch Oliver Jeges gestört, der 2012 in der WELT (wo sonst?) der „Generation Maybe“ einen fernsehonkelhaften Weckruf ins Stammbuch schrieb, der in keiner Rundfunkandacht mehr so durchgehen würde: 
„Wir […] wollen überall dabei sein und nichts verpassen. Ein Irrweg. Der Mut zur Entscheidung ist wieder gefragt. Auch wenn das manchmal unangenehm ist.“ 
Mit ähnlich moralisierender Sozialnostalgie landete die Bergisch Gladbacher Mundartcombo Cat Ballou vor einigen Jahren einen großen Hit:




Eine zweite, äußerst nervige Entwicklung ist die mediale Vulgarisierung dieses Genres. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass in meiner Facebook-Timeline irgendein Textfeld auftaucht, in dem die Weihen vergangener Kindheitszeiten besungen werden. Die ewig gleichen Strophen dieser Hymne auf die strukturelle Aufsichtspflichtsverletzung handeln stets von aufgescheuerten Knien, Schulhofkeilereien und gesundheitsschädlichen Essgewohnheiten. 

Ich bezweifle immer noch, dass es pauschal besser und wertvoller war, in einer Welt zu leben, in der Vergewaltigung in der Ehe noch kein Strafbestand war, der Besitz eines Videoaufnahme- und –abspielgerätes der behördlichen Genehmigung bedurfte und sich immer mal wieder, aufgrund der fehlenden Bekleidungsbestimmungen, Kinder an Rutschen und Klettergerüsten strangulierten. 


(c) houndsandpeople.com

Ein etwas längerer Text mit der kennzeichnenden Eingangsphrase „Wenn Du nach 1980 geboren bist, hat das hier nichts mit Dir zu tun“ wird immer mal wieder kolportiert. Mir persönlich ist er zum ersten Mal untergekommen, als der Kölner Stadt-Anzeiger ihn um die Jahrtausendwende abdruckte und meine Eltern ihn mit schlecht versteckter Genugtuung beim Abendessen deklamierten. In diesem Text heißt es u. .a: 
„Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt mit Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche Brechmittel.“ 
Auf ein Gespräch über die Ursachen dieser Entwicklungen wollten sich meine Eltern nicht so recht einlassen. Wahrscheinlich hatten sie wie ich noch einen schwarzen Vormittag irgendwann um 1987 herum in Erinnerung, als nach Erscheinen eines alarmierenden Artikels in der damals noch recht jungen Ökotest sämtliche Kindergartenmütter in einer konzertierten Aktion alle unsere oft über Jahre bereicherten Filzstiftsammlungen entsorgten und durch langweilige Ökostifte auf Wasserbasis ersetzten. In einer damaligen Fernsehwerbung für Bastelkleber spielten zwei Kinder den aufschlussreichen Dialog vor: „Gib mal den Kleber rüber… Der riecht ja gar nicht!“ – „Ja, sonst hätte Mami den auch nicht gekauft.“ Any questions? 

In besagtem Text heißt es weiter: 
„Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Fahrräder (nicht Mountain-Bikes!) wurden von uns selbst repariert! Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch die Prüfungen und wiederholten die Klassen. Das führte damals nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zu Änderung der Leistungsbewertung.“ 
Er schließt mit der erstaunlichen Feststellung: „Unsere Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht.“ Das gilt natürlich auch für jede Generation vorher, aber wer wird sich schon mit solchen historiografischen Petitessen aufhalten wollen – wie zum Beispiel mit dem Umstand, dass die Generation der Vor-1980er auch und gerade jene Eltern hervorgebracht hat, die jetzt abends bei den Lehrern anrufen und sich beschweren, der eigene Nachwuchs würde wahlweise unterfordert, untervorteilt oder unterbeaufsichtigt. 

Unterm Strich: Nein, früher war nicht alles besser. Und, ja, wer über die „Jugend von heute“ oder wahlweise die „Generation plus Buchstabe/Adjektiv/Substantiv/irgendein anderes Wort“ lamentiert, mag sich selbst ungemein prophetisch vorkommen, steht aber tatsächlich in der Gefahr, größtmöglichen Blödsinn zu verzapfen. Nicht zuletzt dann, wenn er oder sie selbst zu der angenörgelten Generation gehört und das Klagelied sich vor allem als das erweist, was es tatsächlich ist: Die späte Verarbeitung von Scheiternserfahrungen angesichts gnadenloser schulkindlicher Selektionsprozesse - "beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen."

1 Kommentar:

  1. Nach meiner Erinnerung (nicht vor und nicht nach sondern genau 1980 geboren) spielte nicht nur das Können beim Fußball eine Rolle, sondern vor allem Sympathie. Mit Können konnte man Unsympathie jedoch wettmachen... ich bin/war ziemlich schlecht in Fußball und habe keine negativen Erinnerungen an den Wählprozess, eher an die Sportlehrer in den 90er Jahren, die einen von Beginn an abschrieben...

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