Samstag, 18. Oktober 2014

Im Heiligen Land (IV): Yom Kippur

In die Zeit meines Israelaufenthaltes fiel auch der höchste jüdische Feiertag, Yom Kippur. Für die Reiseplanung wollte das beachtet werden, handelt es sich doch bei Yom Kippur um eine Art verschärften Sabbath, den auch nicht-observante Juden in hohem Maße begehen, sprich: Alle Geschäfte zu, aller Verkehr eingestellt - das Land hält den Atem an. Ein bisschen Unruhe gab es im Vorhinein, die deutsche Botschaft publizierte Reisehinweise, weil in diesem Jahr das muslimische Opferfest auf Yom Kippur fiel, seines Zeichens auch einer der höchsten Feiertage, der jedoch dezidiert anders, mit viel Feierei (und Salutschüssen) begangen wird. Die befürchteten Krawallen blieben aber meines Wissens aus. Schon am vorhergehenden Tag wirft Yom Kippur seine Schatten voraus - am frühen Nachmittag sind alle Geschäfte zu und die Straßen weitgehend leer. 
Am nächsten Morgen merkt man eine feierliche Ruhe, die sich wie ein Schleier über das Land gelegt hat. Man kann ja Stille tatsächlich hören, und es macht etwas mit einem - man bewegt sich vorsichtiger, spricht ein bisschen leiser. Aber es hat nichts Drückendes, eher etwas Entspanntes. Und mir wird auf einmal unsere Sonntagsruhe wieder noch ein bisschen wichtiger.
Wir gojim brechen ein bisschen gegen das Autofahrverbot, fahren über Land bis ins nächste muslimische Dorf, parken dort und machen uns dann zu Fuß über menschen- und autoleere Autobahnen auf nach Nahariyyah, wo wir zwei Synagogen besuchen.

Thx Ronald for the picture! :-)
Nach einer kurzen Stippvisite in der orthodoxen Shul geht es in die reformierte Synagoge – wie überall haben die Reformgemeinden auch in Israel mit deutlichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen, weil ihnen nicht dieselben finanziellen Unterstützungen gewährt werden wie den orthodoxen oder ultraorthodoxen. Entsprechend zusammengewürfelt ist die Einrichtung, aber die Stimmung ist offener, und wir haben nicht dasselbe Gefühl, ständig etwas falsch machen zu können wie im orthodoxen Gotteshaus. Der Gottesdienst beginnt irgendwie – liturgische Präsenz im Sinne moderner praktischer Theologie ist sicherlich nicht die größte Tugend im Judentum überhaupt und die größte Stärke der federführenden Rabbinerin. Erstaunlich viele Besucher_innen der Synagoge sprechen untereinander Spanisch, und ich lerne bei meinem Besuch, dass die Sephardim mittlerweile den größten Anteil der in Israel lebenden Jüdinnen und Juden ausmachen. Das finde ich interessant, denn in Europa begegnet man in der Regel Ashkenasim. Wir bekommen Machzorim mit Übersetzungen – die bringen uns jedoch nur wenig, weil zuerst andere Dinge, Regularien und Gemeindeinterna dran sind. Irgendwann beginnt die Rabbinerin aus einer Schriftrolle vorzulesen, und bei den ersten Sätzen hüpft mein Herz ein bisschen: Wajhi dewar adonaj äl Jona Ben-Amittai lemor: Kum, lech... Ha!, den Text erkenne ich sogar auf Hebräisch, es ist das Buch Jona, die Standardlesung im nachmittäglichen Yom-Kippur-Gottesdienst und mir besonders lieb, seit ich meine Examensarbeit darüber geschrieben habe. 

Bild: shunammite.com


Danach geht es irgendwie weiter, und ich blättere ein bisschen in dem Bündel Fotokopien herum. Dabei stoße ich auf ein aramäisches Gebet, das zu Yom Kippur gehört und das mich immer sehr fasziniert hat: Kol Nidre, „alle Eide“. Darin bittet man um Verzeihung für all die Eide, Versprechen und Schwüre, mit denen man sich im Laufe des nächsten Jahres binden wird. Das Gebet hat eine äußerst wechselhafte Wirkungsgeschichte, war längere Zeit im Judentum verboten und wurde trauriger Weise von Christen als Beweis angeführt, dass die Versprechungen von Juden nichts wert sind. Dass es nicht darum geht, dürfte jedem außer den Inquisitoren, die den Juden alles ad malam partem auslegten, klar sein. Und ich gerate ins Nachdenken über Binden und Lösen, über Situationen, in denen man sich selbst unfrei macht – und über Jesu Mahnung: „Ihr sollt überhaupt nicht schwören“, die ich hier wiederum als äußerst jüdisch wahrnehme. Bevor es aber zum Kol Nidre kommt, von dem es eine ganze Reihe äußerst ergreifender Vertonungen gibt, müssen wir aufbrechen und zurückwandern, über menschenleere Autobahnen in einem Land, das für eine kurze Zeit den Atem anhält.



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