Montag, 11. August 2014

Warum ich sonntags gerne Schwarz trage.

Nachdem ich jetzt aufgrund von Krankheits- und Urlaubsvertretungen und sonstigen Nettigkeiten an acht Wochenenden hintereinander Gottesdienste hatte, hänge ich meinen Talar wirklich mal ganz gern für ein paar Wochen auf den Bügel. Eigentlich eine gute Gelegenheit, mal über liturgische und dienstliche (beides ist nicht unbedingt dasselbe), sprich: über pastorale Berufsbekleidung nachzudenken. Die nachfolgenden Ausführungen haben dabei auch einen Charakter for future reference - denn bestimmte Diskussionen wiederholen sich immer und immer und immer wieder, auch unter Kolleg_innen. Und nicht immer gewinnen sie dadurch. 

VORBEMERKUNGEN. 


Vielleicht ein paar Vorbemerkungen: Ich habe ganz klare Vorlieben, was Kleidung innerhalb und außerhalb des Gottesdienstes angeht. Das sind in vielen Fällen ästhetische und/oder sozialisationsbedingte Entscheidungen, auch wenn sie natürlich auch irgendwie theologisch begründbar sind - ich würde soweit gehen zu behaupten, dass gerade in der Kleiderfrage die ästhetische Entscheidung so gut wie immer vor der theologischen fällt. Aber gerade deswegen halte ich es mit den Reformatoren der Wittenberger Bewegung: Diejenigen Fragen, die gottesdienstliche Äußerlichkeiten betreffen, sind Adiaphora, also "Mitteldinge", man könnte, etwas hemdsärmelig, auch sagen: Äußerlichkeiten, Nebensächlichkeiten, weil sie nicht darüber entscheiden, ob ein Gottesdienst recht ist oder nicht. Das haben die Reformatoren bereits 1530 im Augsburger Bekenntnis in ökumenischer Weite festgestellt: 
Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. Und es ist nicht zur wahren Einheit der christlichen Kirche nötig, dass überall die gleichen, von den Menschen eingesetzten Zeremonien eingehalten werden, wie Paulus sagt: »Ein Leib und ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe« (Eph 4,4-5). (CA VII) 
Eine zweite Vorbemerkung: Dinge sind nicht einfach von sich aus irgendetwas, sondern allein dadurch, dass wir ihnen eine bestimmte Bedeutung zuschreiben, sei es bewusst oder unbewusst. 
Ein Drittes: Historische Argumente für oder gegen eine bestimmte Amtstracht müssen daraufhin überprüft werden, ob ihrer Verwendung ein konsensfähiges Geschichtsverständnis zu Grunde liegt. Was das bedeutet, wird im weiteren Verlauf hoffentlich noch klar. 
Das vorausgeschickt, wenden wir uns erst einmal dem Spektrum möglicher liturgischer Kleidung zu, also den Kleidungsstücken, die die Hauptverantwortlichen im Gottesdienst tragen. Das ist nicht dem persönlichen Belieben freigestellt, sondern per Kirchengesetz geregelt, meist in der sog. Amtstrachtsverordnung.

LITURGISCHE MODENSCHAU. 

DER TALAR 


Die liturgische Standardbekleidung in deutschen evangelischen Landeskirchen ist der schwarze Talar, den es in regional verschiedenen Ausführungen gibt, die sich in Details des Schnittmusters und im Material geringfügig unterscheiden. Dazu wird entweder ein Beffchen getragen, in manchen Städten eine Halskrause oder der sog. Damenkragen, alle jeweils in weiß. Der textilgeschichtliche Hintergrund dieser Ergänzungen ist denkbar pragmatisch: Es ging darum, den teuren schwarzen Stoff vor einer Verschmutzung durch gepuderte Bärte oder Perücken zu schützen. Dass der Talar an Richter- oder Anwaltsroben erinnert, ist kein Zufall, sondern hängt damit zusammen, dass es sich um ein stilisiertes Gelehrtengewand handelt, wie es auch bis in die 68er hinein Universitätsprofessoren trugen. Landesweit eingeführt wurde der Talar 1811 durch eine Kabinettsordre Friedrich Wilhelms III. (und, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, einer darauf aufbauenden Konstistorialverfügung für evangelische Pfarrer und jüdische Rabbiner von 1817), allerdings hat der Preußenkönig den Talar nicht einfach erfunden, es gab, zum Teil regional unterschiedlich, Vorformen. Ob sich eine textilhistorische Kontinuität zur frühneuzeitlichen Gelehrtenschaube nachweisen lässt, wird mitunter bestritten, eine endgültige Entscheidung scheint hier aber schwierig – und ist letztlich auch irrelevant. 

Wer im Gottesdienst den Talar trägt, ist in den evangelischen Landeskirchen unterschiedlich geregelt. Natürlich Pfarrerinnen und Pfarrer, mitunter auch ordinierte Nicht-Theolog_innen, also Prädikanten oder Lektorinnen. 

Gegen den Talar gibt es eine Reihe von Argumenten, die, vorsichtig ausgedrückt, unterschiedlich stichhaltig sind. Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich den Talar anderen liturgischen Gewändern vorziehe, bemühe mich aber nach Kräften um eine differenzierte Darstellung. 

(c) Michaela Völkl / pixelio.de

Ästhetische Argumente betreffen vor allem assoziative und farbpsychologische Gesichtspunkte: Schwarz ist in unserem Kulturkreis vor allem als Trauer"farbe" auf eine Art und Weise konnotiert, die von Gegnern des Talars als unvereinbar mit der Hauptaufgabe evangelischer Predigt, der Verkündigung der Frohen Botschaft, und unpassend für die Feier des Gottesdienstes aufgefasst wird (zur aus meiner Sicht problematischen Pauschalrede vom Gottesdienst als einer Feier habe ich an anderer Stelle etwas geschrieben). Theologische Argumente wiederum rekurrieren auf eine ganze Reihe verschiedener Annahmen und theologischer Spezialgebiete: Aus pastoraltheologischer Sicht wird eingewendet, dass die Identifikation der/des Predigenden mit einem Gelehrten die priesterlichen Aspekte liturgischen Handelns zu sehr in den Hintergrund rückt. Kirchengeschichtliche oder geschichtstheologische Perspektiven werden dort bemüht, wo das vergleichsweise geringe Alter des Talars und seine Herkunft aus nicht-gottesdienstlichen Kontexten als Argumente gegen seinen Gebrauch angeführt werden, wo die o. g. Anordnung des preußischen Königs als fremder, weltlicher Eingriff in das gottesdienstliche Geschehen verstanden oder wo auf Martin Luther, der in Abendmahlsgottesdiensten seine alte Priesterkleidung trug, rekurriert wird. 
Eine ökumenische Sicht hebt den Umstand hervor, dass der schwarze Talar im weltkirchlichen Vergleich ein Ausnahmephänomen darstellt. 

Bei allen genannten Argumenten wird in der Regel das zweite in den Amtstrachtsverordnungen ermöglichte liturgische Gewand bevorzugt: Eine (dunkel-)weiße Mantelalbe mit Stola in den liturgischen Farben. Natürlich gibt es auch, etwa aus freikirchlicher Sicht, generelle Einwände gegen liturgische Kleidung als solche, die entweder eine unbotmäßige Trennung zwischen Gottesdienst und Alltag befürchten oder aber darauf hinweisen, dass eine angesichts des reformatorisch zentralen Priestertums aller Getauften unangemessene Hierarchie zwischen Klerus und Laos, zwischen Berufs- und Berufungschristen, inszeniert und zelebriert wird. 

Gegeneinwände 


Was die ästhetischen Argumente angeht - da ist schwer etwas gegen zu sagen. Wenn Menschen mit der "Farbe" Schwarz Negativassoziationen verbinden, dann ist das erst einmal so. Die Frage ist, inwieweit solchen höchst subjektiven Befindlichkeiten in jedem Fall Rechnung getragen werden kann. Nebenbei: Es gibt auch positive Assoziationen mit dem schwarzen Talar, ein Gemeindeglied erzählte neulich, sie empfinde angesichts der postmodernen Bilderflut das schlichte Schwarz des Talars als "Augenurlaub". 
Theologisch habe ich persönlich keine Schwierigkeiten damit, dass mit dem Talar der Gelehrtenstatus der oder des Predigenden (nicht nur von Pfarrer_innen!) betont wird. Wenn man mal das etwas reißerische Etikett "Gelehrte/r" außer Acht lässt, wird damit festgehalten, dass biblisch inspirierter Glaube über die unmittelbare Erfahrungsebene hinaus auch immer ein ausgesprochener Lernprozess ist, auch mit Wissen (!) zu tun hat - das Judentum hat das, wie so vieles, weitaus besser präsent als wir. Aber natürlich müssen sich vehemente Verfechter_innen des Talars Rechenschaft darüber ablegen, welche Rolle Statusfragen insgeheim spielen und ob man es nicht auch heimlich ein bisschen schön findet, so ein bisschen nach Richterin oder Professor angezogen zu sein.
Als Kirchengeschichtler interessieren mich die historischen Argumente natürlich besonders, und es ist vielleicht auch kein Wunder, dass ich hier etwas kritischer bin als bei anderen Begründungskomplexen: Es impliziert einen besonderen Blick auf Geschichte, den ich für keineswegs selbstverständlich halte, wenn dem Älteren ein grundsätzlicher Vorzug vor dem Jüngeren eingeräumt wird - das ist, mit Verlaub gesagt, ein etwas vulgärer Formkonservativismus. 
Auch das Argument, der Talar sei flächendeckend erst durch ein königliches Edikt eingeführt worden, ist aus meiner Sicht weniger entscheidend als das vielleicht auf den ersten Blick so wirken mag: Zum Einen war der preußische König nach geltendem Kirchenrecht der damaligen Zeit summus episcopus seiner Kirche - wie evangeliumsgemäß eine solche Verbindung von Thron und Altar ist, sei mal dahingestellt. Ob der König als solcher das Recht zu derartigen Eingriffen in den liturgischen Ablauf hatte, war vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts alles andere als unumstritten - allerdings haben sich meines Wissens die Kirchengemeinden gegen die Einführung des Talars weitaus weniger gewehrt als gegen die Einführung eines handgestrickten Potsdamer Gottesdienstablaufes im Agendenstreit ein paar Jahre später. 

(c) commons.wikimedia.org / kirchengeschichten.blogspot.de

Zum Anderen hat der preußische Talar damit jedoch eine über zweihundertjährige gottesdienstliche Wirkungsgeschichte, die ihn mit liturgischen Assoziationen angereichert hat. Davon kann man nur absehen, wenn man unreflektiert von einem rein etatischen Geschichtsverständnis ausgeht und den prozesshaften Charakter von Geschichte außer Acht lässt - etwas pointiert gesagt: wer die Wirkungsgeschichte außer Acht lässt, outet sich damit automatisch als nicht wenig obrigkeitshörig, selbst wenn er das Gegenteil behauptet. 
Was Martin Luther angeht - nun ja, da muss man sich der Frage stellen, welchen Stellenwert das Reden und Handeln des Reformators für unsere heutige Kirche im Einzelfall hat - und wie man es dann mit dem Grundsatz hält, die evangelische Kirche sei ecclesia semper reformanda. Auch die sich selbst lutherisch nennende Kirche ist in vielen Dingen über Luther hinausgegangen - und als Reformierter würde ich immer auch einwenden, dass meiner Meinung nach Luther und sein unmittelbares Wittenberger Umfeld an einigen Stellen nicht konsequent genug mit Theorie und Praxis der Papstkirche gebrochen haben.

Das in dem Kontext immer wieder vorgebrachte Argument, "Luther habe ja keine Kirche gründen wollen", hat in dieser Pauschalität wenig Erkenntniswert. 

Auf die ökumenischen Aspekte gehe ich gleich im Blick auf die Albe noch ein, an der Stelle nur so viel: Ja, es ist in der Tat so, dass in den Kirchen der Welt der schwarze Talar eher eine Ausnahmeerscheinung darstellt. Das gilt aber auch für die Frauenordination und die gottesdienstliche Begleitung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, und man muss sich fragen, wie viel normative Bedeutung man der quantitativen Mehrheit zugestehen will und kann. Auch hier gilt wieder: In Deutschland kommt dem Talar der Status eines evangelischen Markenzeichens zu - davon wird man nicht ganz absehen können. Man muss sich natürlich auch fragen, inwieweit eine Definition über Abgrenzung (denn "evangelisch" meint aus dieser Perspektive vor allem "nicht katholisch") dem gottesdienstlichen Handeln angemessen ist. 

Soweit erstmal zum Talar. Kommen wir zur Alternative: 

ALBE UND STOLA 


Auch bei Albe und Stola kommen ästhetische Gesichtspunkte zum Tragen: Das augenfreundlich abgedunkelte Weiß wird, in Verbindung mit der farbigen Stola, als textile Symbolisierung des Evangeliums gedeutet und erscheint der gottesdienstlichen Feier desselben angemessen. Aus theologischer Perspektive wird darauf verwiesen, dass der priesterliche Charakter gottesdienstlichen Handelns hervorgehoben wird. Die Albe bietet entsprechende Deutungsmöglichkeiten und eine entsprechende Auslegungsgeschichte: Das Weiß symbolisiert, in Analogie zum Taufkleid, die Zugehörigkeit zum Heiligen und den Status der Christinnen und Christen als Kinder des Lichts (1Thess 5,5), die Stola das Joch Christi, dem wir unterstellt sind. 


Im Blick auf geschichtliche Aspekte wird hervorgehoben, dass die Albe mit Stola das ältere und explizit "liturgische" Gewand darstelle. Damit verbunden ist die ökumenische Perspektive, aus der Albe und Stola die Verbundenheit mit der weltweiten Christenheit vor Augen führen sollen. 

Gegeneinwände 


Auch hier gilt wieder: Gegen ästhetische Bedenken ist wenig zu sagen, manche mögen es bunter als andere, und das ist gut so. Mein subjektiver Eindruck von persönlich und online geführten Debatten ist allerdings, dass die ästhetischen Argumente bei Befürwortern der Albe mitunter stärkeres Gewicht haben als bei den Talarfreundinnen. Dem Diskurs ist das nicht immer zuträglich, wenn implizit oder explizit die Adiaphora über einen Zwischenschritt des Psychologisierens und Emotionalisierens zu Kernthemen des Glaubens oder zu Entscheidungsfragen in Sachen Gottesdienst erklärt werden, über die nicht mehr sachlich zu verhandeln ist. 
Bedenkenswert finde ich symboldidaktische Reflexionen, die ernstnehmen, dass der Gottesdienst ein ganzheitliches und alle Sinne ergreifendes Geschehen ist. Das ist in der Tat in protestantischer Liturgik und Praxis lange Zeit zu kurz gekommen und v.a. seit den liturgischen Erneuerungsbewegungen ungefähr ab den 1920erjahren und seit ungefähr einem Jahrzehnt wieder verstärkt in den Blick gekommen ist. 
Die Betonung der priesterlichen Rolle des Liturgen muss dabei, wenn sie Grundlage einer liturgierechtlichen Entscheidung sein soll, auf der Basis biblischer und reformatorischer Theologie erörterbar sein. Insbesondere sollte, wer diese Argumente ins Feld führt, in der Lage sein, die impliziten Konsequenzen für das Verhältnis von Klerus und Laos auch über den Gottesdienst hinaus zu erklären. 

Interessant wird es wieder auf der geschichtlichen Ebene. Immer wieder ist von Befürwortern der Albe zu lesen, der Talar sei "kein liturgisches Gewand wie etwa die Albe" (so gelesen zum Beispiel auf einem Beitrag der Rogate-Gemeinschaft in Berlin anlässlich des Talarjubiläums 2011). Ich bin kein Patristiker, es dürfte aber kirchengeschichtliches Handbuchwissen sein, dass auch Albe und Stola keine "ursprünglich" liturgischen Gewänder sind, sondern in ihrer heutigen Form textile Paraphrasen der römisch-bürgerlichen Alltagskleidung darstellen - denn die trugen die Christen wahrscheinlich bis ins vierte Jahrhundert hinein auch im Gottesdienst. 
Darüber hinaus kann nicht oft genug darauf hingewiesen werden, dass "liturgisch" zunächst und vor allem eine funktionale Kategorie ist und in diesem Fall so etwas meint wie "den gottesdienstlichen Gebrauch betreffend". Damit wird klar, dass liturgische Kleidung erst durch den Gebrauch zu einer solchen wird. Der Talar ist heute dementsprechend genauso liturgisches Gewand wie die Albe, selbst wenn er ursprünglich einen anderen Sitz im Leben hatte - wiederum: genau wie die Albe auch. 

Die ökumenische Dimension wurde bereits im Blick auf den Talar kurz angerissen, die Grundsatzfrage bleibt: Wie normativ ist ein quantitativer Konsens von Kirchen in der ganzen Welt für unser gottesdienstliches Handeln und theologisches Reden vor Ort? Dass diese Perspektive in unsere Überlegungen einbezogen gehört, dürfte außer Frage stehen. Ich würde allerdings auch vor einer romantisierenden Vorstellung von Ökumene warnen, denn: Gerade im evangelisch-(römisch-)katholischen Diskurs ist das Amtsverständnis eines der großen Konfliktfelder, wahrscheinlich viel mehr als die (davon natürlich letztlich nicht zu trennenden) Abendmahlsfrage. Und nicht jeder katholische Priester versteht das Anlegen der Stola durch einen evangelischen Kollegen als Zeichen ökumenischer Annäherung, sondern im schlimmsten Fall als herben Affront: Die Stola signalisiert stärker als andere liturgische Kleidung die katholische Priesterweihe und die damit einhergehende Statusänderung - wir Evangelischen haben diese Priesterweihe aus guten Gründen aber nicht. 

Die Sache mit den Mischformen 



Nach §4 Abs. 2 der rheinischen Amtstrachtsverordnung kann zum Talar eine Stola „in der Regel in den liturgischen Farben“ getragen werden – das schließt meines Erachtens Regenbogen- und so. Dritte-Welt-Stolen sowie Kirchentagsschals mit ein. Die meisten Kolleg_innen, die ich kenne und die davon Gebrauch machen, tun dies wiederum meist aus ästhetischen Gründen, um des kleinen Farbtupfers Willen oder um den feierlichen Charakter bestimmter Gottesdienste besonders hervorzuheben. Ob dann dazu ein Beffchen getragen werden kann oder nicht, darüber schweigt sich die Amtstrachtsverordnung aus, die Frage ist allerdings nicht unumstritten, selbst wenn die Problematik nur schwer nachvollziehbar ist. 

Unterm Strich 


Ich trage meinen Talar gerne, ich bin reingewachsen. Sollte mein Presbyterium irgendwann die Einführung von Albe und Stola beschließen, werde ich mich umgewöhnen müssen, aber sie sicherlich nach einer Eingewöhnungszeit auch gerne tragen - so wie ich heute schon ohne Murren Rochette, Stola und Kollarhemd trage, wenn ich schwedische Gottesdienste halte. Weil es zum Kontext gehört. Ich bin nur zwei Dinge leid: Die ewigen Diskussionen, in denen mir oder anderen bekennenden Schwarzträgern, oft unter Rückgriff auf undifferenzierte Geschichtsklitterung, leibfeindlicher Rationalismus oder Anti-Ökumenismus vorgeworfen wird. Und die leidige Kebbelei. Deswegen – for future reference: Ich habe meins gesagt. Für jetzt.

Freitag, 8. August 2014

"... wie durch einen SPIEGEL"? Gegen ein meinungsstarkes, aber faktenschwaches Plädoyer

(c) SPON/spiegel.de

In einem kürzlich auf SPON erschienenen Kommentar hält Frank Patalong ein Plädoyer für eine Trennung von Kirche und Staat, in dem er, passgenau ins Sommerloch zielend, wenig Neues, dafür aber viel Altbekanntes und genauso altbekannt Undifferenziertes zum Thema "Kirche und Staat" ventiliert. 

Undifferenziert ist vor allem die Rede von "Religion" und "religiösen Menschen". Schon im Eingangsabsatz heißt es programmatisch: 
Für religiöse Menschen haben die Werte ihres Glaubens eine höhere Wertigkeit als nicht-religiös definierte Werte. Sie verstehen ihre Gebote als Gesetze. Kollidieren diese mit den geltenden Gesetzen, stellen sie ihre Regeln oft genug über das weltliche Recht. Klar, denn Gesetze sind nur von Menschen gemacht und können sich ändern. Der Glaube aber fußt - davon gehen Gläubige aus - auf Gott oder Göttern.
Welche konkreten Beispiele Patalong hier vorschweben, muss der geneigte Leser oder die geneigte Leserin sich selbst ausmalen. Im weiteren Verlauf des Artikels nennt er die (zu Recht so bezeichnete) "Farce um einen muslimischen, westfälischen Schützenkönig" (Kommafehler im Original) als Beispiel, die jedoch mehr über das abstruse Selbstverständnis des deutschen Schützenwesens als über "die Religion" aussagt, sowie das kirchliche Arbeitsrecht. "Viele Religionen", so Patalong weiter, "begegnen Menschen, die ihnen nicht folgen, mit Geringschätzung." Mal abgesehen von der sprachlogischen Petitesse, dass "Religionen" keine denkenden und handelnden Subjekte sind - er übergeht dabei den Umstand, dass wahrscheinlich für so gut wie jeden Menschen die eigenen Werte, die eigenen kulturellen und ideologischen Referenz- und Deutungsrahmen, erst einmal schlüssiger und damit ernst zu nehmender erscheinen als andere. Das betrifft nicht nur religiöse Begründungszusammenhänge, ein treuer Anhänger der Partei X wird auch der Meinung sein, dass das Grundsatzprogramm seiner Partei besser begründet und damit aussagekräftiger ist als diejenigen der Parteien Y und Z. 
Natürlich gibt es potenzielle Krisensituationen, in denen staatliches Recht und persönliche Überzeugungen miteinander kollidieren. Das betraf zum Beispiel, bis zur Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in Friedenszeiten 2011, in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends allein über eine Million junger Männer, die als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen anerkannt und zum Ersatzdienst zugelassen wurden. Der öffentliche Diskurs über gesellschaftlich konsensfähige Grundwerte und deren Ausgestaltung aber gehört zum Markenzeichen eines demokratischen Staates, denn:

(c) kirchengeschichte.blogspot.de

"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Das ist das so genannte Böckenförde-Theorem, staats-kirchenrechtliches Handbuchwissen. Deswegen ist die Bildunterschrift in Patalongs Artikel ("Kruzifix im Klassenraum: Deutschland ist kein säkularer Staat") irreführend und falsch: Deutschland ist ein säkularer, aber kein laizistischer, atheistischer oder antireligiöser Staat - die im Grundgesetz garantierte Religionsfreiheit ist auch und vor allem eine positive. Aber dazu später mehr.

Natürlich gibt es kleine fundamentalistische Splittergruppen, die solche Kollisionspunkte öffentlichkeitswirksam zum Grundsatzprogramm erheben und ethische Randprobleme zum Hauptkampfplatz einer eschatologischen Schlacht der Guten gegen die Bösen erklären. Dazu gehört aber gerade die evangelische Kirche nicht, seit der Konfessionalisierung, über Kaiserreich, Weimarer Republik und Bundesrepublik (und, Gott sei's geklagt, auch in der Diktatur dazwischen) eine der staatstreuesten Institutionen überhaupt.

"Auch in diesem Land sind Nicht- und Andersgläubige häufig genug Leidtragende religiös definierter "Gesetze", denen sie eigentlich gar nicht unterstehen", so Patalong weiter. Hier muss man ein wenig mehr Fantasie aufbringen, um darauf zu kommen, was er meint. Die Rede ist vom kirchlichen Arbeitsrecht: 
"Kirchen gehören zu den größten Arbeitgebern des Landes, von ihren Angestellten verlangen sie eine religionskonforme Lebensweise. Das ist zu rechtfertigen, wenn es um kirchliche, mit der "Verkündigung" verbundene Ämter und Funktionen geht. Nicht zu rechtfertigen ist es, wenn die Kirche wie im Falle von Krankenhäusern oder Kindergärten in staatlich finanzierten Einrichtungen ihre religiösen Regeln zum Gesetz erhebt."
Man kann darüber diskutieren, welche Funktionen und Ämter nicht mehr Anteil am kirchlichen Verkündigungsauftrag haben. Bei Pfarrer_innen, Kirchenmusiker_innen, Pädagog_innen dürfte der Fall klar sein. Dann müssten aber Erzieherinnen und Erzieher genauso darunter fallen, und es wird schwer sein, das arbeitsrechtlich auszuhebeln: Jeder Betrieb kann von seinen Arbeitnehmer_innen ein gewisses Maß an Loyalität verlangen, so können etwa unternehmensschädigende Äußerungen auch in der freien Wirtschaft durchaus ein Kündigungsgrund sein. Stärker verankert sind solche Loyalitätspflichten bei so genannten Tendenzbetrieben, d.h. bei "Unternehmen und Betrieben, die unmittelbar und überwiegend [...] politischen, koalitionspolitischen, konfessionellen, karitativen, erzieherischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bestimmungen oder [...] Zwecken der Berichterstattung oder Meinungsäußerungen [...] dienen" (§ 118 BetrVfG). 

Wenn Patalong schreibt: "Mit sagenhafter Dreistigkeit hebeln kirchliche Arbeitgeber Tarifverträge aus", dann ist das leider, leider nicht falsch; eine Studie zum kirchlichen Arbeitsrecht der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2012 hat gezeigt, dass etwa die Diakonie ihren "Dritten Weg" (d.h. eine besondere Form der Tariffindungspolitik, bei der auf das Mittel des Arbeitskampfes zugunsten von Schlichtungsprozessen verzichtet wird) bewusst und erfolgreich als Wettbewerbsvorteil nutzt. Das ist nicht nur gegen die ratio legis des kirchlichen Arbeitsrechts, sondern ausgenommen schäbig und läuft dem Verkündigungsauftrag aller kirchlichen Organe diametral zuwider. 

Patalong schreibt weiter, und dann wird es wieder falsch:
"Wir leben keineswegs in einem säkularen Staat, der allen Religionen und Überzeugungen eine gleichberechtigte Bühne bietet. Christliche Kirche und Staat sind in Deutschland nicht getrennt. Steuerzahler finanzieren die Gehälter der christlichen Priester und Religionslehrer aus dem Topf für Beamte, nicht durch die Kirchensteuer."


In der Praxis ist es in der Tat so, dass bestimmte Religionsgemeinschaften mehr Rechte haben als andere. Das liegt daran, dass nicht alle Religionsgemeinschaften die Kriterien erfüllen können oder wollen, die an den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts geknüpft sind. Im entsprechenden Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung, der als Ergänzung zum Art. 140 des Grundgesetzes Gültigkeit behält, heißt es: 
"Die Religionsgesellschaften bleiben Körperschaften des öffentlichen Rechtes, soweit sie solche bisher waren. Anderen Religionsgesellschaften sind auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten."
Dass nicht alle Religionsgemeinschaften als Partner des Staates im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips in Frage kommen, liegt also vor allem erst einmal an organisatorischen Gründen: Nicht jede Religionsgemeinschaft ist von ihrem Selbstverständnis, aber auch von ihren Mitgliederzahlen her in der Lage, staatstragende Aufgaben stellvertretend zu erfüllen. Den Status als KöR haben dabei noch weitaus mehr Gemeinschaften, als man so denkt, darunter die jüdischen Kultusgemeinden, etliche Freikirchen, die Baha'i und einige Humanistenverbände. Dass der Staat "die Gehälter der christlichen Priester und Religionslehrer aus dem Topf für Beamte, nicht durch die Kirchensteuer" finanziert, stimmt nur zum Teil: Es gibt aufgrund von rechtsgültigen Reparationszahlungen m.W. vor allem in der katholischen Kirche Stellen, die von staatlichen Geldern finanziert werden. Das sind aber Einzelfälle - ich kann mit großer Sicherheit versprechen: Für mein Gehalt kommt die Kirche auf. Dass die Religionslehrer_innen vom Staat bezahlt werden, versteht sich von selbst - immerhin nimmt auch der Staat mit seinen Schulen deren Dienste in Anspruch. A propos Religionsunterricht - auch darauf kommt Patalong zu sprechen: 
"Die Steuerzahler finanzieren auch den Religionsunterricht, dessen Aufgabe es ist, nachwachsende Kirchenmitglieder mit Glaubensinhalten zu füttern. [...] Nichtgläubige werden genötigt, am Religionsunterricht teilzunehmen - oft mit erheblichen Nachteilen für den Zeugnisdurchschnitt."
Um die Gemüter zu beruhigen: Es ist nicht Aufgabe des Religionsunterrichtes, für Nachwuchs bei der Kirchenmitgliedschaft zu sorgen. Der RU steht, genau wie jeder andere Unterricht, unter dem Vorbehalt des Überwältigungsverbotes - missioniert wird also nicht. Es ist auch vollkommener Unsinn, wenn Patalong behauptet, Nichtgläubige würden genötigt, am Religionsunterricht teilzunehmen - auch dafür sorgt die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit: Wer Gewissensgründe hat, kann jederzeit, sofern er oder sie nicht an einer Schule in konfessioneller Trägerschaft ist, den Religionsunterricht abwählen; die Schule hat dann für eine adäquate Beaufsichtigung zu sorgen, nicht jedoch dafür, dass jede_r Schüler_in einen weltanschaulichen Unterricht passgenau nach eigenem Belieben erhält.

Dass die Teilnahme am Religionsunterricht mit "erheblichen Nachteilen für den Zeugnisdurchschnitt" verbunden sei, wäre mir neu. Ich kann hier nur ebenso diffuse Mutmaßungen anstellen wie Patalong: Meiner Wahrnehmung nach ist "Reli" immer noch eins der Fächer, in denen der Notendurchschnitt ziemlich hoch ist (was bei manchen Theologiestudierenden zu bösen Überraschungen führt, wenn sie mit ihren 14-15 Punkten  im vierten Abiturfach von der Schule an die Universität kommen) - und meiner Erfahrung nach sind die besonders gläubigen Schüler_innen nicht unbedingt diejenigen, die im Religionsunterricht besonders gute Noten einheimsen, denn dort geht es nicht um Bekenntnistreue, sondern um kritische Reflexionsfähigkeit.

Dass Religionsunterricht in konfessioneller Verantwortung stattfindet, also vom Staat an die Religionsgemeinschaften delegiert wird, ist im Grundgesetz (Art. 7, Abs. 3) festgelegt und hängt, wiederum, mit oben genanntem Böckenförde-Theorem, genauer gesagt mit den Erfahrungen eines korrumpierten Staates unter dem NS-Regime zusammen: Die Bundesrepublik erlegt sich selbst eine ideologische Selbstbeschränkung auf. Auch hier gilt wieder: Theoretisch kann jede Religionsgemeinschaft, die bestimmte Anforderungen erfüllt, solche Dienste übernehmen - ein großes Problem des muslimischen Religionsunterrichts ist, dass es keine übergeordnete Organisation gibt, die diesen verantworten könnte, weswegen man hier auf Übergangs- und Kompromisslösungen setzt.

Zur Kirchensteuer fällt Patalong ein:
"Die ist eine Art Mitgliedsbeitrag und als solcher nur insofern zu beanstanden, als der Staat diesen eintreibt - er tut das für keinen anderen Verein."

Fairer Weise muss man dazu sagen, dass der Staat sich das von den Kirchen gut bezahlen lässt. SPON hat das korrigiert und weist am Ende des Artikels darauf hin, dass der Staat dafür etwa vier Prozent des Gesamtkirchensteueraufkommens erhält - und damit 2013 dann immerhin knapp 200 Millionen Euro verdient hat, allein an der evangelischen Kirche. 
Nur: Die nachgeschobene Korrektur bringt insofern wenig, weil das Kind schon in den Brunnen, bzw. selbiger vergiftet ist. Das spricht nicht für Patalongs Argumentation, die in weiten Teilen populistisch und unsauber ist. 

(c) kirchengeschichten.blogspot.de

Patalong hat auch recht, wenn er schreibt, dass viele kirchliche Handlungsfelder staatlich refinanziert und damit "vom Steuerzahler" gestemmt werden, und man sollte den Hinweis ruhig ernstnehmen und fragen, wie offen Kirche wirklich damit umgeht, dass sie einen Großteil ihrer KiTas und Krankenhäuser nur zu einem (manchmal sehr geringen) Teil aus eigener Tasche bezahlt. Seine Entrüstung darüber, dass der Steuerzahler "den Missionsbetrieb in kirchlichen Krankenhäusern" bezahlt, ist unsachgemäß und schlichte Meinungsmache - mit Steuergeldern wird kein Missionsbetrieb bezahlt, sondern Ärztinnen, Krankenpfleger, Verwaltungsangestellte, technische Gerätschaften - das alles in Einrichtungen, in denen sich Jeder und Jede auch ohne Kirchenmitgliedschaft behandeln lassen kann. Dass man in einem sozialen System immer auch für Einrichtungen und Dienstleistungen mitzahlt, die man vielleicht gar nicht selbst in Anspruch nehmen will, liegt in der Natur der Sache, und natürlich kann man sich mit Recht darüber ärgern. Ich zum Beispiel zahle einen Rundfunkbeitrag, dessen Großteil für Sendungen auf den Kopf gehauen wird, die ich mir nicht einmal gefesselt vor dem Fernseher angucken würde, und ich finanziere Parteien, die ich nicht im Traum wählen würde.

Unterm Strich verwundert es dann wenig, dass das Schlussplädoyer ähnlich meinungsstark und faktenschwach ausfällt wie der Rest:
Zur Chancen- und Rechtsgleichheit gehört es, die Religionen vom Staat zu trennen und auf ihren Platz zu verweisen: Dann dürfen sie wie andere Vereine auch um Mitglieder werben - ohne staatliche Finanzierung durch Steuergelder, ohne Sonderrechte.
"Kirche ist kein Kaninchenzüchterverein!" dieses Mantra bin ich schon fast reflexartig versucht auszurufen. Aber nicht nur aufgrund ihres Selbstverständnisses: Die beiden großen christlichen Kirchen machen zusammen (nach dem Staat selbst) den zweitgrößten Arbeitgeber im Land aus und nehmen staatstragende Funktionen wahr. Als solche ist es ihr gutes Recht, finanzielle Unterstützung in Anspruch zu nehmen - wie übrigens, auch da hinkt der Vergleich mal wieder, auch gemeinnützige oder mildtätige Vereine jedweder Couleur in den Genuss staatlicher Zuwendungen oder Erleichterungen kommen können.

Trotz aller sommerlochtypischen Oberflächlichkeiten erinnert Patalongs Artikel an ein paar theologische Hausaufgaben und Klärungsprozesse, die zu einem Großteil den Kirchen noch bevorstehen: Das kirchliche Arbeitsrecht ist gegenwärtig Gegenstand erhitzter Debatten - und das ist gut so, denn da kann und darf nicht alles so bleiben. Darüber hinaus müssen Kirche und institutionalisierte Diakonie ihr Verhältnis zueinander immer wieder klären. Und der Status einer Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechts ist in einer sich verändernden gesellschaftlichen Situation nicht nur extern juristisch, sondern auch intern theologisch plausibel zu machen. Die evangelische Kirche werde "nie wieder Behördenkirche" sein dürfen, hat Martin Niemöller nach dem Zweiten Weltkriegt gesagt. In Zeiten, in denen die Basisarbeit vor Ort mehr denn je von langwierigen und langweiligen Strukturreformprozessen blockiert wird, beginnt man zu ahnen, warum...

Sonntag, 3. August 2014

Sammeln. Essen. Und ein Stück weiter. - Predigt über Ex 16,1-3.11-15

(c) M. Hermsdorf / pixelio.de

Die Bibel erzählt viele Reisegeschichten. Geschichten von Leuten, die unterwegs sind – und für Leute, die unterwegs sind. Von einem Ort zum anderen, von einer Lebensphase zur nächsten, auf der Suche nach Gold, nach der großen Liebe, nach dem Sinn des Lebens, nach sich selbst, nach Gott, nach etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Diese Reisen sind keine Kaffeefahrten, es geht über Berge und Täler, durch Feindesland, durch Wüsten, und die Geschichten dazu erzählen, was Menschen die Kraft gibt, trotzdem weiterzuziehen, das Bekannte hinter sich zu lassen und das Unbekannte, das, was vor einem liegt, zu suchen. Trotz allem. 

Vielleicht sind einige von Ihnen gerade auf dem Sprung oder schon unterwegs. Irgendwoweg, irgendwohin. zwischen einem schwierigen Abschied und einem ungewissen Neuanfang. Und vielleicht fragen Sie sich gerade, ob es wirklich so gut war, aufzubrechen. Diese Predigt ist für Sie. So, wie die biblischen Geschichten von unterwegs für Leute unterwegs sind. Und deswegen nicht verschweigen, wo es auf dem Weg Probleme gibt: 

Von Elim zogen sie aus und die ganze Gemeinde der Israeliten kam in die Wüste Sin, die zwischen Elim und Sinai liegt, am fünfzehnten Tage des zweiten Monats, nachdem sie von Ägypten ausgezogen waren. Und es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste. Und sie sprachen: Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst. 

Liebe Gemeinde, leiden ist einfacher als Verändern. Das ist eine alte Binsenweisheit aus der Psychotherapie, und etwas, das Sie wahrscheinlich aus Ihrem eigenen Leben kennen: Man richtet sich ein, arrangiert sich, sucht sich Wege, um seinem Ärger Luft zu machen oder ihn hinunterzuschlucken. Da weiß man, was man hat, lieber den Spatzen in der Hand als die Taube auf dem Dach. Ich will das gar nicht alles unnötig schlechtreden, immerhin ist die Fähigkeit zur Anpassung ein Talent, das uns Menschen in der Evolution entscheidende Vorteile beschert hat. Aber manchmal lähmt sie doch, manchmal hindert sie daran, notwendige Veränderungen zu unternehmen und wichtige Schritte Richtung Freiheit zu machen. 

Das Perfide ist ja: Eine zweite große Fähigkeit der Menschen besteht darin, das Vergangene zu beschönigen. Und diese Fähigkeit greift auch dann, wenn man endlich einen Schritt gemacht, eine Veränderung eingeleitet, ein Lebenskapitel abschlossen und ein neues aufgeschlagen hat. Und dann die ersten Schwierigkeiten kommen. Dann lockt das Alte, das eigentlich Abgeschlossene, und früher war doch, wenn vielleicht nicht alles besser, so doch auch nicht alles schlecht. 

Bei den Israeliten schleicht sich diese Einsicht ein, als sie in der Wüste unterwegs sind. Sie schleppen sich durch den heißen Wüstensand, die Zunge klebt am Gaumen, der Magen knurrt und die Luft flimmert in der Hitze. Und einer fängt an zu murren, und die ganze Stimmung kippt. In der Auslegungsgeschichte dieser Wüstenwanderung sind die Israeliten meist die Bösen, die Unzufriedenen, die Ungehorsamen, die Kleingläubigen. Aber ich glaube, dass wird ihnen nicht gerecht. Denn wir reden ja nicht von kleinen Kindern, die auf dem Rücksitz quengeln: „Sind wir endlich da?!“ Sondern von Menschen, die alles hinter sich gelassen haben, und die jetzt ins Grübeln kommen: War es das wirklich wert? Die jetzt durch die Wüste ziehen, mit dem grausamen Gefühl in den Fersen und Herzen: Vielleicht sind wir doch in die Irre geführt und allein gelassen worden. 

Wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. Sie wussten es damals noch nicht. So wie wir im Nachhinein immer sagen können: Hurra, wir leben noch, war doch gar nicht so schlimm. Die Israeliten mussten diese Erfahrung erst machen. So, wie wir jedes Mal aufs Neue entdecken und lernen, dass wir nicht allein sind, gegen das Gefühl, gegen den Augenschein, gegen das Knurren im Magen. 

Und am Abend zogen die Wachteln herauf und bedeckten das Lager, am Morgen aber lag Tau rings um das Lager. Und als der Taunebel aufgestiegen war, sieh, da lag auf dem Boden der Wüste etwas Feines, Körniges, fein wie der Reif auf der Erde. Und die Israeliten sahen es und sprachen zueinander: Was ist das? Denn sie wussten nicht, was es war. Da sprach Mose zu ihnen: Das ist das Brot, das der HERR euch zu essen gegeben hat. Das ist es, was der HERR geboten hat: Sammelt davon so viel, wie jeder zum Essen braucht. Ein Gomer je Kopf sollt ihr nehmen, nach der Anzahl der Personen, ein jeder für die, die zu seinem Zelt gehören. Und so machten es die Israeliten: Sie sammelten ein, der eine viel, der andere wenig. Als sie es aber mit dem Gomer massen, hatte der, der viel gesammelt hatte, keinen Überschuss, und der, der wenig gesammelt hatte, keinen Mangel. Jeder hatte so viel gesammelt, wie er zum Essen brauchte. 

Was ist das? fragen die Israeliten, als sie den Fund am Boden begutachten. Man hu, fragen sie auf Hebräisch. Die Sprache setzt den Fragenden ein Denkmal, wir nennen das, was sie da am Leben gehalten hat, Manna. 

Und sie sammeln, 
lassen die fremdartigen Körner durch die Finger rieseln, 
riechen dran, 
spüren den Geschmack auf der Zunge, 
ein jeder Bissen sagt: 
Ihr seid nicht allein. 
Schmecket und sehet, wie freundlich Euer Gott ist. 

Ihr seid nicht allein. Gott sorgt für Euch. Für uns. Für jeden von uns. Hier und jetzt. Das vergessen wir manchmal. Meine Oma hat früher, bevor sie einen neuen Laib Brot abgeschnitten hat, in die Unterseite ein Kreuz geritzt. „Weil unser tägliches Brot nicht von uns selbst kommt“, sagte sie. Als Kind fand ich das komisch. Sie war selbst losgegangen und hatte Mehl gekauft, den Teig geknetet, den Ofen angeheizt, das Brot hineingeschoben und hinterher mit einem Stäbchen geprüft, ob es durch war. Heute habe ich Respekt vor diesem einfach Art, sich bewusst zu machen, dass wir alle von Voraussetzungen leben, die wir selbst nicht schaffen können. 

Ich erinnere mich an einen Kongress in Heidelberg, vor einigen Jahren. Theologen und Naturwissenschaftler hatten sich getroffen, das Thema war „The Ends of the World and the Ends of God“, es ging darum, was Geophysiker, Biologen und Astronomen über die Zukunft unserer Welt zu sagen hatten – und in welchem Zusammenhang das zu unserer christlichen Hoffnung steht. Am Ende trat einer ans Mikrofon und sagte: „Wir beobachten im Moment rund 11.000 Asteroiden, die als Kandidaten für einen Beinahe-Zusammenstoß mit der Erde in Frage kommen. Ein paar der gefährlichsten Krankheitserreger sind nur noch wenige Mutationsstufen davon entfernt, sich als völlig neue Krankheit an allen Impfungen und Arzneien vorbei auf die Menschheit zu stürzen. Meine Damen und Herren, wir leben weitaus mehr in Gottes Hand, als wir das so wahrhaben wollen.“ 

Das Brot in der Wüste sagt deutlicher, glaubwürdiger, handfester als jede Predigt: Gott sorgt für uns. Ihr seid nicht allein in der Wüste. Unser tägliches Brot gib uns heute – hier ist es. 

Jeder hatte so viel gesammelt, wie er zum Essen brauchte. Dann sprach Mose zu ihnen: Niemand hebe etwas davon bis zum Morgen auf. Sie aber hörten nicht auf Mose, und einige hoben davon bis zum Morgen auf, aber es wurde voller Würmer und stank. Da wurde Mose zornig über sie. So sammelten sie es Morgen für Morgen, jeder so viel, wie er zum Essen brauchte. Sobald aber die Sonne heiss schien, zerschmolz es. 

Nur ein bisschen, nur eine kleine Notration, für schlechte Zeiten. Ein bisschen was wegpacken, um es wieder herauszuholen, wenn man es wieder braucht. Ein paar Bissen, ein bisschen von dem honigsüßen Geschmack, um sich zu erinnern, wenn das Leben wieder bitter ist. 

Aber es funktioniert nicht. Da ist der Wurm drin, und es stinkt. 

Manche Dinge lassen sich nicht konservieren, und wenn, dann geht das ohnehin meistens auf Kosten von Nährstoffen und Geschmack. Sammle auf, nutze, genieße das, was Dir vor die Füße gelegt wird. Aber horte es nicht. Das funktioniert nicht. 
Unser tägliches Brot gib uns heute. Dietrich Bonhoeffer sagt: Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie uns nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. Deswegen feiern wir zweimal im Monat Abendmahl. Ein Bissen Brot, ein Schluck Wein oder Traubensaft – mehr braucht es manchmal nicht, um sicher zu sein: Ich bin nicht allein. Das reicht für ein erneutes Aufraffen, ein weiteres Stück weg, ein paar Schritte. Das lässt sich nicht aufheben, nicht konservieren. Wer wieder Hunger bekommt, wer sich unsicher ist, wem die Angst an den Fersen und im Nacken hängt, muss wiederkommen. Jetzt gleich. Greif zu. Nimm hin und iss. Schmecket und sehet, wie freundlich unser Gott ist. Amen.

(c) Daniel Kocherscheidt / pixelio.de