Dienstag, 6. Januar 2015

Erfolgreich quergestellt, oder: Als meine Generation das Demonstrieren lernte

Wir haben sie immer ein bisschen belächelt, die friedensbewegten Altvorderen, die runden Männer mit grauem Rauschebart und Strickpulli, die wettergegerbten Frauen mit Batikschal. Belächelt, ihnen manchmal sogar eine nicht geringe Mitschuld an den leeren Kirchen gegeben, die wir vorfanden, als wir zum ersten Mal auf die Kanzel kletterten. Wir warfen ihnen vor, "das Wesentliche" übersehen, geistliche Belange und theologische Argumente vernachlässigt zu haben, erklärten, nicht wenig altklug, die Welt sei nun einmal komplizierter als in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern, und mit dem Abstand einiger Jahrzehnte könnten wir bei objektiver historischer Betrachtung nicht feststellen, was das Demonstrieren und Dagegensein eigentlich genau am Lauf der Welt geändert hätte.

Dann begannen wir zu frösteln, als ein eisiger Hauch durch Deutschland zog, ein Wind, der nach Bohnerwachs, Aftershave, Pommesfett und Scheiße roch. Es war im Winter 2014/15, als Pegida sich anschickte, rechte Parolen unter dem Deckmantel bürgerlicher Besorgtheit auf die Straße zu tragen und von dort aus in die Wohnzimmer und an die Stammtische. Und wir erkannten, dass die Öffentlichkeit ein umkämpfter Raum ist.

KÖLN STELLT SICH QUER


Montag, 5. Januar, später Nachmittag. In der S-Bahn Richtung Innenstadt ist alles ganz normal, der übliche Pendlerverkehr, keine Transparente, nichts, das darauf hinweist, dass Kögida zum "Montagsspaziergang" und eine Allianz aus so ziemlich allen Akteuren des öffentlichen Lebens zur Gegendemonstration gerufen haben. In der Tasche habe ich einen Skizzenblock, ein paar Stifte, Billigwasserfarben im Reiseset und Pinsel mit eingebautem Wasserreservoire. Ich will skizzieren, meine Eindrücke vom Geschehen festhalten - und ein bisschen das Zeichnen von Menschen und vor allem Menschenmassen üben. Meine bisherigen Urban-Sketching-Erfahrungen in Israel haben gezeigt, dass man darüber leicht und schnell mit Leuten ins Gespräch kommt, und ein bisschen ist auch das Ziel und Zweck der Übung: Ich möchte den Pegida-Befürwortern näher kommen, will wissen, was sie umtreibt. Und natürlich hoffe ich insgeheim, dass mir in dem Gespräch ein paar prophetisch-wohlartikulierte Sätze einfallen, die sie dazu bringen, ihren Irrtum einzusehen und ihren falschen Wegen abzuschwören.
Erst in der Deutzer Bahnhofshalle ist zu sehen, dass es sich nicht um einen normalen ersten Arbeitstag nach den Weihnachtsferien handelt. Überall Polizisten in Krawallausrüstung, mit grünen und dunkelblauen Overalls und Helmen. Das allein ist ein lohnendes Motiv, und so stelle ich mich an den Rand und beginne zu zeichnen.


Die meisten Polizisten machen einen entspannten Eindruck, einige kommen rüber, "wollen mal gucken" und finden es schön, gezeichnet zu werden. Nein, angespannt sei man in der Tat nicht, man rechne mit einem ruhigen Verlauf. Eine Polizistin sagt nachdenklich-lächelnd, es sei doch bemerkenswert, dass im Umfeld solcher Anlässe auch Schönes entstehen könne. Überhaupt sagen an diesem Abend viele Leute um mich herum viele weise Dinge. Irgendwann kapituliere ich vor den sich ärgerlicher Weise immer bewegenden Leuten und Dimensionen und Proportionen, die vor meinem Auge und in meinem Kopf immer anders aussehen als auf dem Papier, und ich beschließe, rauszugehen und mir die Pegida-Meute aus der Nähe anzusehen. Das ist aber nicht so ganz einfach, weil die Polizei den gesamten Ottoplatz mit Absperrzäunen und Hundertschaftswagen abgeriegelt hat. Die paar hundert Pegida-Anhänger (die Angaben schwanken, während die "gleichgeschalteten" Medien von 500 sprechen, gibt sich Kögida selbst auf seiner Facebook-Seite bescheiden und spricht von 250-300 Teilnehmenden) wirken ein bisschen verloren auf dem großen Platz.


Über den Demonstranten weht neben mehreren Deutschlandflaggen auch eine mit in schwarz gefasstem, weißem nordischen Kreuz auf rotem Grund, ein Spiel mit bevorzugten Farben und Symbolen rechtskonservativer bis -populistischer Bewegungen - wer noch Zweifel hegt, wes Geistes Kind die Bewegung ist, möge genau hinschauen. Nach einiger Zeit ist diese Flagge verschwunden. Um mich herum ein emsiges Kommen und Gehen, viele bleiben stehen und gucken beim Zeichnen zu, man unterhält sich über dies und das. Mit zwei jungen Männern komme ich ins Gespräch, sie sind nur zufällig vor Ort, aber gleichermaßen verwundert wie abgestoßen über die Redefetzen, die der Wind ab und an zu uns herüberträgt. Wie das für sie so ist, will ich wissen. "Scheiße", sagt der eine. Der überlegt ein bisschen und sagt dann: "Sie meinen mich. Sie lassen sich von mir an der Kasse bedienen, und wenn ich sie darauf ansprechen würde, würden sie sagen, dass sie mich persönlich natürlich nicht meinen. Aber sie treffen mich mit ihrem Rundumschlag." 

Gerade redet eine der Quotenfrauen, sie spricht deutlicher als ihr Vorredner. "Wir wollen nur...", so etwas sagt sie ziemlich oft, und dann erzählt sie, sie habe von einem Krankenhaus in London gehört, in dem viele Kinder Mohammed heißen. Das wolle sie nicht. Ein Polizist schüttelt ungläubig den Kopf, ein Passant murmelt: "So eine unerträgliche Scheiße." Zwischendurch rufen ein paar Leute "Nazis raus!". Ich zeichne weiter, es ist schwer, der jungen Frau zuzuhören, weil sie so dummes Zeug redet und sich dabei hörbar anständig vorkommt. Irgendwann redet wieder ein Mann, er ist schwerer zu verstehen, weil er ins Mikrofon röhrt. Immer wieder ist die Rede von "Fanatikern", er wolle keine "islamischen Fanatiker", und übrigens "auch keine christlichen". Hear ye, hear ye. Die gelben Straßenlaternen tauchen die Szenerie in weiches Licht, ansonsten ist es merkbar dunkel in der Innenstadt. Der Dom ist aus - mehr Symbolik geht nicht in Köln, alle anderen Kirchen auf der anderen Rheinseite liegen im Dunkeln, ebenso wie das Schokoladenmuseum, das Maritim und andere skylineprägende Gebäude. 

Irgendwann geht mir das Wasser aus, und ich gehe zum Bahnhofskiosk. Als ich an der Kasse stehe, riecht es schlecht, nach stockiger Kleidung und Alkohol. "E Kölsch för mich un en Cola för dat Frauche", röhrt ein grobschlächtiger Mann neben mir dem Kassierer ins Gesicht, dann wendet er sich wieder "däm Frauche" zu. "Mr kütt nit övver dr Bröck, die sin die am blockeere." "Ävver woröm hät de Pollizei die Bröck dann nit avjesperrt?" fragt sie, und er antwortet: "För Kopftücher hättense dat jemaht, för deutsch denkende Menschen nit." "So ein Quatsch", sage ich laut. Angesichts der Tatsache, dass er ungefähr anderthalb mal so groß und doppelt so schwer ist wie ich ist, ist das vielleicht keine gute Idee, aber die geballte Polizeipräsenz macht mutig. Er guckt mich glasig an, dann kauft er noch e paar Kippe. Als ich mich umdrehe, fällt mir die Flasche hin, als ich sie aufhebe, gucke ich seiner Frau ins Gesicht. Das Leben hat es nicht gut gemeint mit ihr. Aber sie lächelt mich an. Ich lächle zurück, und denke: Du bist nett. Warum bindest du dir so einen ans Bein, warum lässt du dich von den Rattenfänger einlullen? Sage es aber nicht. Projekt "Gespräch mit Pegida-Anhängern" gescheitert, mea culpa. 

Ich umrunde den Ottoplatz und gehe zum LVR-Gebäude, wo die Gegendemonstration im vollen Gange ist. Es ist ungleich voller, man steht dicht an dicht. Es ist ein bisschen wie wenn in der Philharmonie das Weihnachtsoratorium oder die Matthäuspassion aufgeführt wird - ein Stelldichein des evangelischen Kölns. Gut so. Heimat. Auf einer kleinen Bühne spielt man Karnevalsmusik mit aktualisierten Texten, vor dem LVR-Turm hört man Samba, Leute tanzen. Die Kölner_innen machen aus dem Protest das, was sie am Besten können: Karneval. Das passt auch historisch, denn die Tage um Epiphanias herum sind die einzigen, an denen mit der Prinzenproklamation nur organisierter, jedoch kein Straßenkarneval stattfindet. Auch hier wehen Fahnen, Grüne, Piraten, Gay-Bären und andere zeigen Flagge, hier und da schweben handgemachte Schilder über der Menge, die ein Lob auf die kulturelle Vielfalt singen. Es wird deutlich, dass man nicht gegen jemanden demonstriert, sondern für etwas ein Zeichen setzt, und das wärmt an einem solchen Wintertag. 


Irgendwann machen die Pegida-Leute wieder über Lautsprecher von sich hören. Sebastian Nobile, Organisator und ehemaliges Mitglied der rechtsextremen German Defence League, faselt etwas, er habe seine Zuhörer_innen alle lieb und wolle nicht, dass jemand zu Schaden komme. Deswegen verzichte man auf den "Spaziergang". Jubel allerorten, die Party geht weiter - alors on danse. Gut so.

Über die Hohenzollernbrücke mache ich mich auf Richtung Innenstadt. Vor dem Reiterdenkmal Friedrich Wilhelms II. bleibe ich wie viele andere kurz stehen und gucke auf den dunklen Dom. Es war eine gute Entscheidung des Erzbistums, Pegida die malerische Kulisse zu verweigern, und ein deutliches Zeichen, dass an ihren Protesten und ihren diffusen Mischgefühlen aus Hass und Angst nichts Christliches ist. Danke, Erzbistum! 

Vor mir schreitet eine ältere Dame, über ihrer Schulter ein Schild mit Biblischem drauf: "Gott liebt die Fremden und gibt ihnen Kleidung und Nahrung. Auch ihr sollt die Fremden lieben. Dtn 10,18." Und ich bin dankbar über die friedensbewegten Altvorderen, die runden Männer mit grauem Rauschebart und Strickpulli, die wettergegerbten Frauen mit Batikschal, und wünsche mir mehr von ihrer Leidenschaft, ihrem heiligen Zorn, ihrem Durchhaltevermögen. Weil ich zu verstehen beginne, dass unsere zivilisatorischen und kulturellen Errungenschaften nicht selbstverständlich sind, dass die Öffentlichkeit ein umkämpfter Raum ist. Überall in Köln kehren jetzt Friedensbewegte ein, setzen sich im Lapidarium, in der Mumu oder in irgendeinem Stüffge an den Tresen, stellen ihre Schilder an die Wand, bestellen ein Kölsch und erzählen. Der Dom ist immer noch dunkel. In Dresden sind heute keine 300, sondern 18.000 Pegida-Anhänger aufmarschiert. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie dort keine Kirchen mehr haben, die das Licht ausmachen können.

Hinter der Brücke, Richtung Eigelstein, verabschieden sich ein älteres Paar und eine junge Frau voneinander. "Tschö Oma, tschö Opa", ruft sie, "war cool!" Dann schwingt sie sich auf ihr Fahrrad. Ihre Großeltern gucken ihr nach, dann dreht sich die Oma zu ihrem Mann. "Unsere Enkelin, auf ihrer ersten Demo. Hat sich gut geschlagen", stellt sie fest, und in ihrer Stimme klingt Wehmut und Stolz. Und sie sehen einander an, mit diesem Blick, den nur Menschen füreinander haben, die es lange miteinander ausgehalten haben und bei denen das "deswegen" immer wieder über das "trotz allem" siegt. So wie jetzt. Sie sehen einander noch einmal an, dann küssen sie sich. Und radeln davon. 

Es war im Winter 2014/2015, als meine Generation unter dem Hashtag #nopegida das Demonstrieren lernte. Als wir uns im eisigen Hauch sozialer Kälte aneinander wärmten, im Graubraun der ersten Tage im Jahr bunte Fahnen schwenkten und hofften, dass Frühling wird.


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