Dienstag, 19. Mai 2015

Gebete, die zu Boden fallen (Yere Düşen Dualar)

Die Inspiration zum Text kam (schon vor einer ganzen Weile) von einem Romantitel der türkischen Schriftstellerin Sema Kaygusuz. Yere Düşen Dualar heißt das Buch auf Türkisch, also wörtlich übersetzt: "Gebete, die zu Boden fallen". In der deutschen Übersetzung ist das verloren gegangen (hierzulande heißt das Buch "Wein und Gold"), aber ich finde, das Bild kann was. Deshalb mal ein leiserer, langsamerer Text. Für den PreacherSlam auf der Landesgartenschau in Landau. Der letzte Teil ist und bleibt gewidmet.

(c) Jürgen Acker / pixelio.de


Ein kleines Mäuerchen in Berlin-Mitte,
einer plötzlich wieder geteilten Stadt,
gespalten nicht in Ost und West,
sondern in Vorher und Nachher,
zwischen wir beide und nur noch ich allein.
Sie stützt den Kopf auf die Hände.
Alles ein Rauschen, ein Schreien,
eine bleierne Stille,
ein dröhnendes Echo:
„Es ist vorbei“.
Kein Raum für klare Gedanken,
keine Pause im Karussell der Bilder,
die sich drehen und verschwimmen.
Das Herz eine offene Wunde,
ergießt sich mit jedem Schlag in einem Schwall
blutroten Schmerzes,
zerrinnt in der Brust.
Der Magen presst es heraus:
ein gewürgtes „Warum“,
ein geweintes „Was jetzt?“
drängt nach oben
staut sich vor einem dicken Kloß im Hals,
nur ein paar gestammelte Fetzen quetschen sich vorbei,
vermischen sich mit Tränen,
rollen das Kinn hinunter,
tropfen zwischen ihren Füßen auf den Asphalt
und vertrocknen
zu winzigen Salzflecken.


Irgendwo am anderen Ende der Welt,
wo die Erde bebt
unter trampelnden Soldatenstiefeln,
oder donnernden Wasserfluten.
Er läuft, nein: rennt.
Um eine Kurve,
um sein Leben.
Japst und stöhnt, stolpert und fängt sich,
rennt weiter.
Muskeln trommeln und brennen,
Der Atem flach und stechend.
Ein Schrei wird geboren
von einem klopfenden Herzen,
bekommt keine Luft,
erstickt in der trockenen Kehle,
wird nach oben gespült,
kämpft sich nach vorn,
stirbt als Stöhnen auf rissigen Lippen,
und taumelt bleich und steif
auf die Straße
zwischen Tränen und Trümmern,
Sand und Staub
und bleibt liegen.

Ein Krankenzimmer in Bocholt,
die Vorhänge zugezogen.
Sie liegt auf ihrem Bett.
Die letzten Züge fallen schwer, tun weh.
Die Uhr tickt, so laut,
so schnell,
und doch so unendlich langsam.
Der Lärm der Welt entfernt sich.
Faltige, fleckige Hände falten Gebete,
ungelenk,
zerbrechliche Gebilde
aus dünnem Papier.
Auf einmal krampft die Hand sich zusammen.
Noch ein heftiger Atemzug,
noch ein Schluck Leben.
Der Rest ist ewiges Ausatmen.
Rotgrelles Piepen
zerschneidet den Tag.
Ein zerknüllter Fetzen aus unsichtbarem Papier
fällt aus der kraftlosen Hand,
rollt unters Bett
und bleibt liegen.

Gebete, die zu Boden fallen,
überall und zu allen Zeiten.

Gebete, die zu Boden fallen.
Wie ein Vogeljunges aus dem Nest
Nackt,
unfertig
und klein.
Auf hartem Asphalt,
zwischen Glas und Steinen.
Doch der im Himmel wohnt,
geht gebückt über die Erde.
Langsam, vorsichtig, nichts zertreten.
Kniet nieder.
Er hebt sie auf, birgt sie in seiner Hand,
zärtlich, nicht zu fest.
Bläst sie trocken mit warmem Atem.
Er wirft sie in die Höhe,
lässt sie fliegen.
Ein Windhauch, wie aus dem Nirgendwo,
ein sanftes, stilles Sausen
trägt sie hinauf. Höher und höher
über alle Wolken.
Große Gesänge,
wie Schwäne aus Weiß und Gold,
geben ihnen Geleit.
Sie landen auf einem ausgetreckten Arm.
Dessen, der neben dem Thron steht,
mit schmutzigen Knien.
Er neigt ihnen das Ohr zu,
und alle Himmel vibrieren
von ihrem Klang.
Und seiner  Antwort:
„Ich weiß.“


(Andere tolle Texte von der Landesgartenschau gibt es hier und hier!)

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