Donnerstag, 13. August 2015

Analog-Exerzitien | Lebenskunst unter Künsten

Schwer liegt sie in der Hand, die alte Kamera, eine Revueflex AC2. "Gute Kamera", brummen die, die sie noch kennen. Ich habe sie geerbt, generalüberholen lassen, und will damit jetzt das Fotografieren lernen. Wenn es ohne Bildstabilisator, Autofokus und Blitzautomatik geht, dann geht alles andere erst recht.



Sie bringt einen Hauch von Gestern ins Leben - wo bekommt man eigentlich noch Rollfilme? Und wie überbrückt man die gefühlte kleine Ewigkeit, bis die Bilder endlich entwickelt sind und man mit klopfendem Herzen noch im Fotoladen den Umschlag aufreißt? 

Warten. Nägelkauen. Loslassen. Überrascht Werden.

Das Warten auf ein Ergebnis eigener Arbeit hat fast etwas Exerzitienhaftes. Die Entwicklungszeiten zwingen zu Geduld, verlangen, dass ich ein Projekt erst einmal ruhen lasse und woanders weiter mache. Das bedeutet auch: Ergebnisse können nicht direkt abgeglichen werden. Ich drehe an der Blende, schraube ein anderes Objektiv auf, drücke ein paar Mal auf den Auslöser - und hoffe, dass ich in ein-zwei Wochen noch weiß, warum das eine Foto besser oder schlechter oder einfach nur anders ist als das nächste. Einerseits führt das zu einem bewussteren Tun: Ich schraube nicht einfach so herum, versuche, mir Einstellungen zu merken, vielleicht sogar zu notieren. Andererseits bringt es eine Gelassenheit mit sich: Es wird sich schon zeigen, welche Einstellung die richtige war. Oder, bei mir im Moment eher der Fall, welche die falsche, wann ich die Kamera nicht ruhig genug gehalten habe. Und so. Ich akzeptiere, habe ja auch gar keine andere Wahl, als mich überraschen zu lassen. 



Kontrollverlust.

Es ist ein Reflex. Wenn das Foto geschossen ist, kippe ich die Kamera nach unten und gucke auf ihre Rückseite. Dummerweise sehe ich da aber keinen Bildschirm, sondern eine Tabellen mit irgendwelchen Zahlenwerten, die wahrscheinlich kolossal wichtig sind, deren Sinn mir aber bislang verborgen bleibt (was sich wahrscheinlich auch auf die Fotos auswirkt). Ich kann nichts bewusst korrigieren, kann nicht garantieren, dass das Foto dem Motiv, das ich im Moment so toll finde, auch nur annähernd gerecht wird. Vielleicht wird sich das im Laufe der Zeit ändern, im Moment ist zumindest der gefühlte Kontrollverlust total und lässt sich auch durch das drei- oder viermalige Knipsen zur Sicherheit nicht ausgleichen. Es nervt, ungemein. Auf jeden Fall am Anfang. Und gleichzeitig merke ich: Es fällt mir leichter, mich von Motiven zu lösen, aus Situationen zu verabschieden und weiterzuziehen. 



Grenz 'n' Werte.

Sechsunddreißig. Zum ersten Mal seit über fünfzehn Jahren kriegt diese Zahl etwas Magisches. Sechsunddreißig Bilder passen auf einen Film, eigentlich noch weniger, das erste und das letzte Bild werden ja nie etwas. Was für andere Dimensionen sich hier auftun, wird mir bewusst, als ich mir den Ordner mit meinen Bildern aus dem Israelurlaub im Herbst angucke. Das sind 1.327 Fotos. Tausenddreihundertsiebenundzwanzig. Schon das Zahlwort ist unübersichtlich. Tausenddreihundertsiebenundzwanzig. Sechsunddreißig. Die Rolle hat einen Anfang und ein Ende, dazwischen ist Platz, und der reicht eigentlich, ist knapp, aber nicht zu knapp. Und Verknappung bedeutet ja Intensivierung. Schon im Prozess des Fotografierens. Der wird langsamer. Für zig Versuche, unter denen mit etwas Glück schon etwas Gutes dabei ist, ist schlicht kein Material da. Das ändert das Fotografieren: Ich mache mir mehr Gedanken über das einzelne Foto. Und irgendwie macht es auch was mit den fertigen Fotos. Sie sind weniger. Und wertvoller. Wahrscheinlich nicht aus künstlerischer Sicht. Aber aus meiner. Vielleicht, weil in Kopf und Herz kein Platz für tausenddreihundertsiebenundzwanzig Geschichten ist, für 36 aber schon.



Verlangsamung. Ungleichzeitigkeit.

Die ungewohnt lange Zeitspanne zwischen dem Knipsen und dem fertigen Bild führt dazu, dass die analog entstandenen Bilder, auch wenn die Fotolabore mittlerweile immer eine CD dazuliefern, für bestimmte Dinge nicht geeignet sind. Zum Beispiel für keine unmittelbaren Statusupdates, für Selfies oder Momentaufnahmen, die anderen zeigen: Hier bin ich, das mache ich gerade. Die Gefahr ist deswegen geringer, dass sie Fotos werden, die eigentlich für andere sind. Und die Zwischen-Zeit verändert das Betrachten der Bilder: Zwischen ihrem Entstehungsmoment und dem ersten Angucken liegt eine Zeit des Wartens, aber auch eine Zeit des Erinnerns und des Verarbeitens, aus der Gegenwart ist Vergangenheit geworden. Auch das entlastet die Bilder, und lädt sie gleichzeitig auf mit etwas Anderem, Tieferen. Der ausgedehnte Entwicklungsprozess, der Wert der einzelnen Bilder, all das macht auch etwas mit dem Fotografieren an sich. Ich bin langsamer geworden. Ertappe mich immer wieder dabei, bei meiner Kompaktkamera unwillkürlich am optischen Zoom drehen zu wollen, habe das Handy gar nicht mehr so schnell in der Hand. Dadurch gehen Motive verloren, aber gleichzeitig entstehen weniger Fotos, die ihnen nicht gerecht würden. 



Die Würde des Unperfekten.

Vielleicht braucht man eine gewisse Reife, um in dem Etikett "Interessantes Gesicht!" das Kompliment wahrnehmen zu können. Denn zuallererst signalisiert es ja ein Abseits von gängigen Schönheits- und Perfektionsidealen. Hand aufs Herz: Der zeitliche Abstand zwischen dem Anblick des Motivs im Sucher und dem ersten bangen Blick auf die Bilder birgt auch Enttäuschungspotenzial. Das Motiv wandert in den Kopf, nistet sich dort ein, wird schöner und ausdrucksstärker und rundum perfekter und überhaupt. Und beim Durchblättern der Fotos stelle ich fest: Autofokus, Bildstabilisator - ganz so verkehrt ist das alles nicht. Und ärgere mich über Körnung, verwackelte Bilder, ganze Filme, die nichts geworden sind. Zum Glück gibt es kluge Leute wie Henri Cartier-Bresson. Der hat einmal gesagt, Schärfe sei ein bourgeoises Konzept. Und recht hat er ja. Zu glatte Fotos sind nicht nur unrealistisch, sie sind auch uninteressant. Warum auch sonst sollten wir Instagram- und sonstige Retrofilter über unsere Digitalbilder jagen, die ihnen einen Anschein von der guten alten Zeit und irgendetwas ungreifbar "Echtem" verleihen sollen? Wer an den vermeintlichen Schönheitsfehlern vorbei sieht, kann sich der Geschichte öffnen, die ein Bild oder auch ein Gesicht erzählt. The supreme vice is shallowness (Oscar Wilde). Trotzdem brauche ich unbedingt ein lichtstärkeres Objektiv. Und vielleicht doch was mit Bildstabilisator...


2 Kommentare:

  1. Eine gute Übung, und ein deutlich anderes Fotografiergefühl. Nachdem ich mich spät von der Analog-Fotografie verabschiedet habe, werde ich jetzt nicht mehr dahin zurückgehen. Obwohl, für eine Leica M3 würde ich noch einmal eine Ausnahme machen.

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  2. Danke! Schon das Lesen des Artikels entschleunigt und rückt die Dinge gerade. Und macht mir bewusst: Ich habe mir die 700 Urlaubsbilder auf zwei Kamers und einem Smartphone noch nicht einmal angeschaut, geschweige denn jemandem gezeigt!

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