Auf dem Abendmahlstisch stehen halbleere Kelche, ein-zwei Teller mit Brotstückchen und -krümeln, ein paar zusammengeknüllte Stoffservietten. Ein bisschen unordentlich, aber irgendwie stimmig. Man sieht, dass Menschen hier gefeiert, gegessen und getrunken haben, wie ein Esstisch nach einer Feier. Die Feiernden stehen noch im Kreis um den Tisch, und während die Orgelmusik langsam verebbt, nehmen sie sich bei der Hand. Manche greifen beherzt und routiniert nach der Hand ihres Nebenmanns oder ihrer Nebenfrau. Andere zögern, lächeln nervös, ihr Blick flackert unsicher im Kreis umher. "Christus spricht: Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben... so geht hin im Frieden des Herrn." Bei den letzten Worten blicken sich die Leute an, nicken einander zu, manche drücken die Hand ein bisschen extra. Schnell lösen sich die Hände wieder voneinander, der Moment ist verflogen, alle gehen zurück zu ihren Plätzen, manche bleiben noch ein wenig stehen, spüren nach, schmecken nach, folgen ihren eigenen Gedanken oder beten.
Die evangelische Liturgik gefällt sich, nach Jahrzehnten des Pädagogisierens und Elementarisierens, seit Neuestem wieder in der Kultivierung von Abständigkeiten. Man wendet sich u. a. gegen das (zugegebener Maßen nervige und kontraproduktive) Toterklären eines jeden gottesdienstlichen Elements, gegen eine angebliche "Gebetsstille", bei der der Liturg das Gebet mit mehr oder weniger geistreichen Kommentaren zum Thema "Schweigen" stört. Oder gegen die vermeintliche Volksnähe der Liturgin, die begeistert und in blumigen Worten einen Segen anmoderiert, darüber aber das tatsächliche Segnen vergisst. Soweit, so gut.
In den letzten Wochen macht in liturgisch versierten Kreisen bei Facebook ein Interview die Runde, das Deutschlandradio Kultur mit dem Mainzer Praktischen Theologen Kristian Fechtner geführt hat. Der hat zum Thema "Scham" geforscht - ein überaus ergiebiges und derzeit daher auch von allen Seiten beackertes Feld. "Der 'Mitmachgottesdienst' kommt nicht bei allen an", so ist der etwas reißerische Titel über dem Interview, und das ist ein wenig schade, denn eigentlich geht es nur im letzten Absatz darum, der Rest bietet durchaus Interessantes zu Scham und Religiosität und nicht zuletzt auch zur Kopftuchfrage. Fechtner plädiert dafür, "Bedürfnisse von Distanz" ernst zu nehmen, auch in liturgischen Formen.
Und ich bin etwas ratlos. Weil ich mich frage, ob hier nicht, wie das sonst immer bei den EKD-Mitgliedsuntersuchungen der Fall ist, ein eigentlich defizitärer Befund und damit der eigentlich unbefriedigende status quo theologisch geadelt werden soll. Weil ich den statistischen Beleg dafür vermisse, dass Kirchgängerinnen landauf und landab allsonntäglich mit "bunten Zetteln" oder ähnlichen Anleihen aus Primarpädagogik und Moderationsworkshops gequält werden. Meine Wahrnehmung ist da eine andere. In den letzten Gottesdiensten, die ich in Urlaubs- und predigtfreien Zeiten in fremden Städten besucht habe, hat man im vorauseilenden Gehorsam auf Fechtner gehört und mich "undercover im Gottesdienst unterwegs sein" lassen: Mein Gesangbuch durfte ich mir selbst aus einem Regal ziehen oder aus der Hand von Gemeindegliedern entgegennehmen, die eher nach Wachtposten als nach Willkommenskomitee aussahen. In meiner Bank irgendwo in der Mitte des Kirchenschiffs saß ich allein, der einzige, der sich mir in der knappen Stunde näherte, war ein Presbyter, der Geld von mir wollte, mir wort- und blickkontaktslos den Klingelbeutel in die Hand drückte und ungeduldig am Rand stehen blieb, bis ich mein Scherflein entrichtet hatte. Nach dem Orgelnachspiel verließ ich, weiterhin unbehelligt, meinen Platz, stellte das Gesangbuch ab, wo es offensichtlich hingehörte, und ging meiner Wege.
Ich glaube nicht, dass "Mitmachgottesdienste" gar so häufig sind. Und ich glaube, dass die bloße Existenz des Wortes auf etwas aufmerksam macht, das mir in der liturgischen Debatte oft zu kurz kommt: Offensichtlich ist das "Mitmachen" im Gottesdienst nicht der Normalfall, die häufig angeführte Behauptung, liturgische Wechselgesänge allein böten reiche Partizipationsmöglichkeiten, ist letztlich und vor allem ein romantisierendes Schreibtischprodukt.
Die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich als fremder Gottesdienstbesucher mit den anderen Mitfeiernden in Kontakt gekommen bin, war beim Abendmahl. Ausnahmslos wurde sich da ans Händchen genommen, eine Praxis, die in der aktuellen liturgiewissenschaftlichen Debatte aus nachvollziehbaren Gründen keinen guten Stand hat (vgl. etwa Thomas Klie in Fremde Heimat Liturgie, der an dieser Stelle nicht mit Galle spart). Mir ist dieser Moment wichtig, weil mir in dem fragilen Moment der Gemeinschaft deutlich wird, dass ich Teil von etwas bin, das über meinen eigenen Horizont und die von mir selbst definierten Grenzen von Nähe und Distanz hinausgeht. Etwas, das im alltäglichen Leben peinlich und undenkbar wäre, wird für einen Moment möglich und berührend.
Ich frage mich, ob Fechtners Theorie vom "diskreten Christentum" nicht ein hübscher Name für eine an sich problematische Entwicklung ist. Natürlich hat jeder und jede das Recht auf einen Platz am Zaun, den Ausgang ständig im Blick, falls einem irgendetwas oder irgendjemand im Gottesdienst zu nahe kommen sollte. Gleichzeitig habe ich die Menschen vor Augen, die in der angeblichen Volkskirche Gemeinschaft suchen - und sie nicht finden. Und in der Bibel lese ich ständig Geschichten von zum Teil recht gewaltsamer Distanzüberwindung, und zwar von beiden Seiten: Da ist Zachäus, der Jesus von seinem Versteck im Baum aus beobachten will und lernt, dass gerade dort nichts über ihn zu erfahren ist. Da sind die Hirten der Weihnachtsgeschichte, die sich hinter ihren Hürden außerhalb der Stadt verschanzen und buchstäblich heimgesucht werden. Da sind die vier Freunde, die Jesus aufs Dach steigen und ihren gehbehinderten Freund zu ihm runterlassen. Da ist die blutflüssige Frau, die Jesus hinterherläuft und sein Gewand berührt.
Unterm Strich: Ich habe nicht ganz so viel übrig für bunte Zettel im Gottesdienst. Und trotzdem möchte ich weiter nach gottesdienstlichen Formen suchen, die der Vereinzelung der Gesellschaft etwas entgegen setzen, und sei es auch nur für einen Moment. Es geht um viel.
Die evangelische Liturgik gefällt sich, nach Jahrzehnten des Pädagogisierens und Elementarisierens, seit Neuestem wieder in der Kultivierung von Abständigkeiten. Man wendet sich u. a. gegen das (zugegebener Maßen nervige und kontraproduktive) Toterklären eines jeden gottesdienstlichen Elements, gegen eine angebliche "Gebetsstille", bei der der Liturg das Gebet mit mehr oder weniger geistreichen Kommentaren zum Thema "Schweigen" stört. Oder gegen die vermeintliche Volksnähe der Liturgin, die begeistert und in blumigen Worten einen Segen anmoderiert, darüber aber das tatsächliche Segnen vergisst. Soweit, so gut.
Screenshot von deutschlandradiokuktur.de |
Und ich bin etwas ratlos. Weil ich mich frage, ob hier nicht, wie das sonst immer bei den EKD-Mitgliedsuntersuchungen der Fall ist, ein eigentlich defizitärer Befund und damit der eigentlich unbefriedigende status quo theologisch geadelt werden soll. Weil ich den statistischen Beleg dafür vermisse, dass Kirchgängerinnen landauf und landab allsonntäglich mit "bunten Zetteln" oder ähnlichen Anleihen aus Primarpädagogik und Moderationsworkshops gequält werden. Meine Wahrnehmung ist da eine andere. In den letzten Gottesdiensten, die ich in Urlaubs- und predigtfreien Zeiten in fremden Städten besucht habe, hat man im vorauseilenden Gehorsam auf Fechtner gehört und mich "undercover im Gottesdienst unterwegs sein" lassen: Mein Gesangbuch durfte ich mir selbst aus einem Regal ziehen oder aus der Hand von Gemeindegliedern entgegennehmen, die eher nach Wachtposten als nach Willkommenskomitee aussahen. In meiner Bank irgendwo in der Mitte des Kirchenschiffs saß ich allein, der einzige, der sich mir in der knappen Stunde näherte, war ein Presbyter, der Geld von mir wollte, mir wort- und blickkontaktslos den Klingelbeutel in die Hand drückte und ungeduldig am Rand stehen blieb, bis ich mein Scherflein entrichtet hatte. Nach dem Orgelnachspiel verließ ich, weiterhin unbehelligt, meinen Platz, stellte das Gesangbuch ab, wo es offensichtlich hingehörte, und ging meiner Wege.
Ich glaube nicht, dass "Mitmachgottesdienste" gar so häufig sind. Und ich glaube, dass die bloße Existenz des Wortes auf etwas aufmerksam macht, das mir in der liturgischen Debatte oft zu kurz kommt: Offensichtlich ist das "Mitmachen" im Gottesdienst nicht der Normalfall, die häufig angeführte Behauptung, liturgische Wechselgesänge allein böten reiche Partizipationsmöglichkeiten, ist letztlich und vor allem ein romantisierendes Schreibtischprodukt.
Die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich als fremder Gottesdienstbesucher mit den anderen Mitfeiernden in Kontakt gekommen bin, war beim Abendmahl. Ausnahmslos wurde sich da ans Händchen genommen, eine Praxis, die in der aktuellen liturgiewissenschaftlichen Debatte aus nachvollziehbaren Gründen keinen guten Stand hat (vgl. etwa Thomas Klie in Fremde Heimat Liturgie, der an dieser Stelle nicht mit Galle spart). Mir ist dieser Moment wichtig, weil mir in dem fragilen Moment der Gemeinschaft deutlich wird, dass ich Teil von etwas bin, das über meinen eigenen Horizont und die von mir selbst definierten Grenzen von Nähe und Distanz hinausgeht. Etwas, das im alltäglichen Leben peinlich und undenkbar wäre, wird für einen Moment möglich und berührend.
Ich frage mich, ob Fechtners Theorie vom "diskreten Christentum" nicht ein hübscher Name für eine an sich problematische Entwicklung ist. Natürlich hat jeder und jede das Recht auf einen Platz am Zaun, den Ausgang ständig im Blick, falls einem irgendetwas oder irgendjemand im Gottesdienst zu nahe kommen sollte. Gleichzeitig habe ich die Menschen vor Augen, die in der angeblichen Volkskirche Gemeinschaft suchen - und sie nicht finden. Und in der Bibel lese ich ständig Geschichten von zum Teil recht gewaltsamer Distanzüberwindung, und zwar von beiden Seiten: Da ist Zachäus, der Jesus von seinem Versteck im Baum aus beobachten will und lernt, dass gerade dort nichts über ihn zu erfahren ist. Da sind die Hirten der Weihnachtsgeschichte, die sich hinter ihren Hürden außerhalb der Stadt verschanzen und buchstäblich heimgesucht werden. Da sind die vier Freunde, die Jesus aufs Dach steigen und ihren gehbehinderten Freund zu ihm runterlassen. Da ist die blutflüssige Frau, die Jesus hinterherläuft und sein Gewand berührt.
Unterm Strich: Ich habe nicht ganz so viel übrig für bunte Zettel im Gottesdienst. Und trotzdem möchte ich weiter nach gottesdienstlichen Formen suchen, die der Vereinzelung der Gesellschaft etwas entgegen setzen, und sei es auch nur für einen Moment. Es geht um viel.
"eine Praxis, die in der aktuellen liturgiewissenschaftlichen Debatte aus nachvollziehbaren Gründen keinen guten Stand hat (vgl. etwa Thomas Klie in Fremde Heimat Liturgie, der an dieser Stelle nicht mit Galle spart)."
AntwortenLöschenWarum ist das so? Was regt Klie am "Händchenhalten", das ja eine Art des Friedensgrußes ist, so sehr auf?
Hallo Philipp.
AntwortenLöschenIch habe das Buch gerade nicht hier rumliegen, aber wenn ich mich recht erinnere, geht es u. a. auch um Distanzverlust, um inszenierte Kuscheligkeit, erzwungene Nähe, sowas halt.
Ich finde den Friedensgruß gut, ich finde es gut, sich nach dem Abendmahl bei den den Händen zu nehmen. Ich fand es auch gut, wie ich bei einer kleinen lutherischen Gemeinde in den USA aufgenommen wurde, wo ich einfach nur mal so zum Gottesdienst gegangen bin. Ich wurde freundlich begrüßt, am Anfang des Gottesdienst gebeten, mich kurz vorzustellen, und bei den Fürbitten bezog ein Gemeindeältester mich und meine Familie ausdrücklich mit ein.
AntwortenLöschenAlles, was dazu beiträgt, uns deutlich zu machen, dass wir mehr sind als ein Verein, der die gleiche Konfession teilt, ist gut. Ich halte nichts davon, Kindergartenmethoden auf Erwachsene anzuwenden, aber die gefühlt zu große Distanz gerade in der evangelischen Kirche auch noch zu rationalisieren, ist erst recht falsch.
Ein guter Artikel! Mich sprach gleich schon der Titel an, weil ich an eine Situation aus meiner Jugend denken musste. Kurz vor der Konfirmationszeit zog meine Familie in eine andere Stadt und ich war aus der alten Gemeinde den Brauch gewöhnt, sich nach dem Abendmahl zum Friedensgruß an den Händen zu fassen. In der neuen Gemeinde war das so nicht üblich. Also ging ich während der Konfirmandenzeit auf den Pfarrer zu und machte ihm diesen Vorschlag. Ich hatte es davor immer als schön empfunden. Der Pfarrer vertrat jedoch die von dir im Artikel erwähnte Haltung, dass man durch das Händereichen jemandem zu nahe treten könnte. Das war für mich damals kaum nachvollziehbar und ich finde es noch heute schade.
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