Freitag, 22. April 2016

Zeig mir deine Narben! - Presbytereinführungspredigt über Joh 20,19-31

Es war schon spätabends an diesem ersten Wochentag nach dem Sabbat. Die Jünger waren beieinander und hatten die Türen fest verschlossen. Denn sie hatten Angst vor den jüdischen Behörden. Da kam Jesus zu ihnen. Er trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!« Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Die Jünger waren voll Freude, weil sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal: »Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so beauftrage ich jetzt euch!« Dann hauchte er sie an und sagte: »Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr seine Schuld vergebt, dem ist sie wirklich vergeben. Wem ihr sie aber nicht vergebt, dem ist sie nicht vergeben.« Thomas, der auch Didymus genannt wird, gehörte zum Kreis der Zwölf. Er war jedoch nicht dabei gewesen, als Jesus gekommen war. Die anderen Jünger berichteten ihm: »Wir haben den Herrn gesehen!« Er erwiderte: »Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst glaube ich nicht!« Acht Tage später waren die Jünger wieder beieinander. Diesmal war Thomas mit dabei. Wieder waren die Türen verschlossen. Da kam Jesus noch einmal zu ihnen. Er trat in ihre Mitte und sagte: »Friede sei mit euch!« Dann sagte er zu Thomas: »Nimm deinen Finger und untersuche meine Hände. Strecke deine Hand aus und lege sie in die Wunde an meiner Seite. Du sollst nicht länger ungläubig sein, sondern zum Glauben kommen!« Thomas antwortete ihm: »Mein Herr und mein Gott!« Da sagte Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Glückselig sind die, die mich nicht sehen und trotzdem glauben!« 


Nach Ostern?


„Frohe Ostern!“ Spätestens seit Montagabend ist dieser Gruß aus dem Alltag wieder verschwunden, sieht man vielleicht von einigen kirchenjahreszeitlich Bewanderten ab, die noch wissen, dass die Osterzeit bis Pfingsten geht. In den Geschäften werden die Schokohasen und Ostereier verramscht, um wahrscheinlich schon im Verlauf der nächsten Wochen der Weihnachtsdekoration Platz zu machen. Morgen geht die Schule los, und auch die Kirchen rundherum im Land erholen sich von dem ungewohnten Besucheransturm und der ungewohnten Dichte der Gottesdienste an den Ostertagen. Was bleibt von Ostern eigentlich übrig, außer dem Bild eines leeren Grabes an der Wand, das eigentlich auch nur noch wegen der heutigen Predigt hier hängt?

Was bleibt nach Ostern? Da sitzen die Jünger. Sitzen irgendwo in Jerusalem, hinter Schloss und Riegel „aus Furcht vor den jüdischen Behörden“. Natürlich. In der Erzählung von Johannes, für den die Trennung von Christentum und Judentum schon Geschichte ist, sind es wieder einmal die Juden schuld. Aber das ist ja nur der Anfang, und das fasziniert und befremdet mich gleichermaßen: Fast so alt wie die Osterbotschaft ist auch die Geschichte der Christenheit, die sich zurückzieht, die unter sich bleibt, die die Welt aussperrt. Bei den Jüngern war es die Angst vor jüdischen Behörden, zu anderen Zeiten und in anderen Ländern, bis heute, mag es tatsächlich die berechtigte Angst vor Verfolgung sein, in China, Iran oder Syrien, oder vor wenigen Jahrzehnten in Rumänien und Russland. Christinnen und Christen, die aus solchen Kulturkreisen zu uns kommen, wundern sich oft, dass bei uns die Türen genauso fest verschlossen und wir ebenso versteckt sind. Vielleicht nicht baulich, auch oft entgegen dem Beteuern, besonders niederschwellig sein zu wollen. Aber auch wir ziehen uns doch hinter verschlossene Türen zurück. Vielleicht aus Angst vor Veränderung? Vielleicht aus Angst, von anderen für bekloppt gehalten zu werden, wenn wir im traditionellen Ostergruß laut und vernehmlich bekennen: Der Herr ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden, gegen all unsere Erfahrung, gegen die Logik des Todes.


Wenn ich mir an dieser Stelle etwas von unseren neuen Presbyterinnen und Presbytern wünschen darf: Keiner von Ihnen und Euch ist neu in der Gemeinde, trotzdem bereichern Sie das Presbyterium um einen neuen Blick auf unser gemeindeleitendes und kirchenverwaltendes Tagesgeschäft. Bitte, achtet und achten Sie mit und für uns verstärkt darauf, wo wir uns einschließen und wo uns unsere Ängste einsperren und eng werden lassen. So wie die Jünger am ersten Osterfest, die sich einschlossen aus Angst vor den Behörden und vielleicht auch aus Verwirrung über die Nachrichten vom leeren Grab.

Heilsame Grenzüberschreitungen


Plötzlich ist er da. So fest verschlossen die Türen auch sind, der Auferstandene lässt sich nicht davon draußen halten. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle, sagt er in der Offenbarung des Johannes. Und diese Schlüssel passen auch in die wuchtigen, eisenbeschlagenen Tore alter Kathedralen und öffnen auch die schweren, angstbeschlagenen Herzen der Christinnen und Christen. Wo Angst ist, da ist Raum für Jesus. „Die Gesunden brauchen keinen Arzt, sondern die Kranken“, hat er einmal gesagt, und dort, wo die Kirche krankt an Selbstbezogenheit und Zweifel, an Orientierungslosigkeit und Angst, an falschen Idealen und Engstirnigkeit, kommt der Arzt, mit lebensrettenden Sofortmaßnahmen und patientenbezogenen Therapien. Plötzlich ist er da, mitten unter den Jüngern. Mitten unter uns. Und sagt: Friede sei mit euch.

Plötzlich ist er da. In einem Wort, das mitten ins Herz geht.
In einem Bissen Brot und einem Schluck Wein.
In einem fragilen Moment Händchenhalten um den Abendmahlstisch.
In einem Gespräch, in dem zwei oder drei ihre Herzen und Ohren öffnen.
Plötzlich ist er da. Mitten unter uns. Und sagt: Friede sei mit euch.

Keine verschlossene Tür hält ihn auf, kein noch so deutliches Signal: Wir wollen unter uns bleiben. Und damit setzt Jesus seine Reihe unerhörter, aber höchst heilsamer Grenzüberschreitungen fort, die er schon zu Lebzeiten begonnen hat: Die Grenze zwischen Himmel und Erde verschwimmt. Die Grenze zwischen Völkern und Familien bröckelt. Die Grenze zwischen „uns“ und „denen“ wird eingerissen. Die Grenze zwischen Leben und Tod wird mit einem souveränen Schritt übertreten.

Und Jesus kommt seinen Jüngern nah, im handgreiflichsten Sinn: Mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Er pustet sie an, mit frischem Wind, mit dem Hauch des Lebens, mit neuem, lebendigen Geist, wie Gott selbst den Klumpen Lehm am Anfang aller Dinge Leben einhaucht und der Kuss des Ewigen Neues wachsen lässt.


Wie er wohl riecht, der Atem des Auferstandenen? Nach dem, was ich in den letzten Tagen und Wochen hier im Gemeindezentrum erlebt habe, würde ich sagen: Nach frisch gebackenem Brot und feuchter Blumenerde. Nach Kaffee. Nach Rosmarin und Koriander und Kardamom und Zimt und Ghormeh Sabzi. Nach stockiger Kleidung und dem Schweiß langer Reisen. Wie riecht er für Sie, der Atem des Auferstandenen?

Er haucht sie an. „Friede sei mit euch“, sagt er. So, wie man sich im Orient halt begrüßt: Schalom. Selam. Salâm. Das ist etwas anders als „Ruhet in Frieden“. Mit seinem Gruß öffnet Jesus die verschlossenen Türen und weist nach draußen. Bei Matthäus ist es der Missionsbefehl, aus der Mund-zu-Mund-Beatmung wird Mund-zu-Mund-Propaganda. Bei Johannes ist es die Erinnerung an die Verantwortung für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit: Wem ihr seine Schuld vergebt, dem ist sie vergeben. Wem ihr sie nicht vergebt, dem wird sie nicht vergeben. Nennt das Böse böse und das gute Gut, sucht das Gespräch, erhebt Eure Stimme. Mahnend und zurechtweisend, ja, aber auch vergebend und befreiend.

Wenn ich an dieser Stelle unseren neuen Presbyterinnen und Presbytern etwas wünschen darf, dann ist es das: Vergesst bei aller Verwaltung und Organisation, bei allem kirchenpolitischen Tagesgeschäft und betriebswirtschaftlichen Abwägen nicht, dass unser Auftrag ein geistlicher ist. Schuld benennen – und vergeben. In allem, auch in unseren Strukturen und Arbeitsweisen, vom offenen Himmel erzählen und die freie Gnade Gottes ausrichten an alles Volk.

Zeig mir deine Narben 


Da ist noch Thomas. „Der Ungläubige“, hat die Geschichte ihn zu Unrecht getauft. Denn Thomas ist ja kein Ungläubiger, im Gegenteil – er wird später das steilste Christusbekenntnis aussprechen, das je einem Menschen im Evangelium in den Mund gelegt wurde: „Mein Herr und mein Gott“. 
Was Thomas auf keinen Fall ist: Ungläubig. Was er aber auch nicht ist: Leichtgläubig. Und ich kann ihn verstehen. Ich glaube, viele können das. Erst will ich selbst die Löcher von den Nägeln an seinen Händen sehen. Mit meinem Finger will ich sie fühlen. Und ich will meine Hand in die Wunde an seiner Seite legen. Sonst glaube ich nicht. Zeigt mir seine Narben, sagt Thomas. 

Und Jesus zeigt sie, lässt sich befühlen, kommt ihm nah. Zeigt sich ungeschützt, mit all den Spuren, die das Leben hinterlassen hat. Und es sind seine Narben, die ihn für Thomas glaubwürdig machen. Mitten in der ungeschminkten Stadt Wuppertal, am achten Tag nach Ostern, sehen wir den ungeschminkten Gott. Der sich die Welt nahe gehen lässt, der sie liebt, dass es wehtut. Der seine Narben trägt, vielleicht nicht mit Stolz, aber mit Selbstbewusstsein. 



Auch wir tragen Narben. An unseren Körpern, auf unseren Herzen, Zeugen eines gelebten Lebens. Der Schmiss an der Stirn, von einem Fahrradunfall mit fünf. Das leichte Fiepen im rechten Ohr nach einem unverdienten, harten Schlag irgendwann in der Kindheit. Der Blinddarm. Die unzähligen kleineren und größeren Schrammen, von denen wir gar nicht mehr wissen, woher sie stammen. 

 Auch wir als Gemeinde tragen Narben. Erinnerungen an schwierige Abschiede, an Saaten, die nicht aufgegangen, Projekte und Ideen, die gescheitert sind. An Menschen, um die wir gekämpft und verloren haben. Wir sind geübt darin, unsere Narben zu verstecken. Kurz vor Ostern haben wir noch schnell über die Außenfassade gestrichen, damit es ordentlich aussieht. Wenn wir im Presbyterium aus den Bezirken berichten, dann erzählen wir besonders gern und routiniert über das, was gut läuft. Weniger über das, was uns schwer fällt. Noch weniger über das, was uns nachts nicht schlafen lässt. 

Aber vielleicht brauchen die Menschen das gar nicht von uns. Vielleicht machen uns geputzte Fassaden, glatte Oberflächen und spannungsfreie Erfolgsgeschichten unglaubwürdig. Weil sie keine Auskunft darüber geben, was das Leben mit uns gemacht hat, auch das Leben mit oder auf der Suche nach Gott. 

Zeig mir deine Narben, und erzähl mir deine Geschichten. 
Als dir der Kinderglaube abhanden gekommen ist wie die Milchzähne. 
Zeig mir deine aufgeschürften Knie, als du gestolpert und hingefallen bist. 
Zeig mir die Schwielen an den Händen, als du dich wieder hochgezogen hast. 
Lass mich den Finger in die Wunde legen, ohne mich zu beschwichtigen oder abzulenken. Sonst glaube ich nicht. 

Wenn ich an dieser Stelle eine Bitte an unsere neuen Presbyterinnen und Presbyter richten darf, dann ist es das: Lernt von Jesus und Thomas. Nehmt Euch Zeit, Eure Wunden heilen zu lassen. Aber versteckt Eure Narben nicht. Versucht nicht, perfekt zu sein – aber ehrlich. Legt, wo es nötig ist, den Finger in die Wunde. Und tragt Euren Teil dazu bei, dass diese Gemeinde ein Raum ist, an dem sich niemand schämt für seine Narben und seine Geschichten, seine Fragen und seine Zweifel. 

Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. Auch noch am achten Tag nach Ostern. Auch in der ungeschminkten Stadt. Plötzlich ist er da. Friede sei mit Euch.

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