Sie haben so viel miteinander erlebt.
Da war diese Hochzeit in Kana.
Trinken, anerkennend nicken, den Abend lang werden lassen.
Körbe voll mit Brot und Fischen durch eine Menschenmenge schleppen.
Mit vollen Händen nach allen Seiten geben.
Sauanstrengend und unglaublich berührend.
Am Fuße eines grasigen Hügels liegen und ihn reden hören und wissend nicken und mit der Menge jubeln und manche Worte wie kleine Schatzkästchen in der Brust aufbewahren: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“
Mit Geistern und Dämonen kämpfen und spielend leicht gewinnen.
Den Goldstaub zwischen den eigenen Fingern ahnen, wenn sie segnend auf dem Kopf eines anderen liegen und Angst, Schwermut, sogar Krankheit vertreiben.
Unter dem Jubel der Menge durch das große Stadttor einziehen, Palmzweigen ausweichen, lächeln und winken und lächeln und winken, die Gesänge der Massen im Ohr und im Herzen: Hosianna. Sauanstrengend, aber unglaublich berührend.
Sie haben so viel miteinander erlebt.
Und dann das.
„Einer von euch wird mich verraten.“
Und nach einem kurzen Moment der Irritation richten sich alle Blicke auf den Einen.
Judas Iskariot. Geboren um das Jahr Null. Gestorben um das Jahr 31 nach Christus.
Der Beiname Iskariot leitet sich wahrscheinlich vom Hebräischen Isch-Kerijot ab, zu deutsch: Der Mann aus Kerijot, oder aber: Der Mann aus der Stadt, d. h. Jerusalem. Ein Judäer in einer Gruppe aus Galiläern. Ein Stadtmensch in einer Gruppe Dorfbewohner. Man merkt es, klar. An der Art, wie er sich hinsetzt und das Essen zum Mund führt. An den Wörtern, die er benutzt. Am Sprachklang. Man merkt es halt. An dem ungeübten Umgang mit Fischernetzen und Mühlsteinen – und an der Selbstverständlichkeit, mit der er über die Straßen in Jerusalem flaniert. An der Sicherheit im Gespräch mit anderen Stadtleuten, mit Hohenpriestern und Schriftgelehrten. Vielleicht fing es als Witz an, als Frotzelei unter Mannschaftskameraden: „Sicher, dass du nicht einer von denen bist?!“ Haha. Ein Lachen, ein Schulterklopfen. Vielleicht wurde das Lachen mit der Zeit angestrengter. Vielleicht hat Judas irgendwann gesagt: Gut. Dann ich eben einer von denen. Aber dann richtig.
Judas Iskariot. Geboren um das Jahr Null. Gestorben um das Jahr 31, Suizid durch Erhängen. Der Beiname Iskariot leitet sich wahrscheinlich ab vom lateinischen sicarius, Dolch. Er weist ihn als Sikarier aus, als Dolchträger, als Mitglied einer Gruppe politischer Aktivisten, manche würden sagen Terroristen. Im ersten Jahrhundert kämpfen sie für die Befreiung Israels von den Römern. Ihre Dolche tragen sie unter dem Gewand, blitzschnell holen sie ihn heraus, um im Schutz großer Volksmengen Attentate auf Angehörige der verhassten Oberschicht zu verüben. In Jesus von Nazareth meint Judas, einen Bruder im Geiste zu erkennen. Einen, der den Traum von der großen Freiheit mitträumt. Als sich abzeichnet, dass Jesus sich nicht als revolutionärer Freiheitskämpfer versteht, wendet Judas sich enttäuscht ab und paktiert mit der Jerusalemer Obrigkeit: Gegen die symbolische Bezahlung von 30 Silberlingen liefert er Jesus von Nazareth den Behörden aus. Nach dem Schauprozess setzt der desillusionierte und von Schuld geplagte Aktivist seinem Leben selbst ein Ende.
Judas Iskariot, geboren um das Jahr Null. Gestorben um das Jahr 31 unter ungeklärten, aber überaus spektakulären Umständen. Ein instabiler Charakter, aufbrausend, oberflächlich, mit schwieriger Vergangenheit. Früh fällt er negativ auf, man munkelt, er würde Geld aus der gemeinsamen Kasse der Jünger unterschlagen. Ein ideales Opfer für den Teufel. Nachdem er sich an Jesus in der Wüste die Zähne ausgebissen hat, versenkt er seine Krallen in Judas. Packt ihn an seinen Schwachstellen: An seiner Angst, an seiner Enttäuschung, an seiner Geldgier, an seinem Bedürfnis nach Sicherheit. Flüstert ihm leise die nächsten Schritte ins Ohr. Ein heimliches Treffen mit den Behörden, ein Beuten Silbermünzen wechselt den Besitzer. Von dem Geld kauft Judas ein Stück Land, was ihm als Jünger verwehrt gewesen war. Aber unrecht Tun gedeieht nicht: Kurz nach dem Landerwerb stürzt er auf seinem Acker und verstirbt qualvoll an inneren Verletzungen. An alten oder an jungen. Oder an beidem.
Die biografischen Angaben über Judas gehen weit auseinander. Über dem Wikipedia-Artikel steht: „Dieser Artikel ist nicht genügend mit Belegen ausgestattet. Näheres auf unserer Diskussionsseite.“ Die Biografien gehen auseinander. Lebensgeschichten werden nie einfach so erzählt, sondern immer mit einem Hintergedanken: Dem Leben Sinn zu geben, den Einzelnen in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Schon ganz früh gehen die Biografien auseinander, weil man erklären musste, was eigentlich gar nicht sein dürfte: Wie kann es sein, dass jemand die Seiten wechselt, der doch ganz nah bei Jesus war? Der all das miterlebt hat. Und wie kann es sein, dass Jesus das auch noch zulässt? Und welche Rolle spielt Gott eigentlich bei dem Ganzen? Fragen, die weit über Judas hinausgehen. Und vielleicht ist es auch falsch, zu schnell alles auf Judas zu schieben. Die Christenheit hat das sehr früh und sehr konsequent getan. So konsequent, dass bis heute kein deutsches Standesamt „Judas“ als Vornamen akzeptiert. Wohlgemerkt, dieselben Standesämter, die in den Vergangenen Jahren Namen wie Sexmus Ronny, Pumuckl, Tarzan, Winnetou, Pepsi-Carola, Chanel und Cinderella-Melodie akzeptiert haben, aber das nur am Rande.
Vielleicht ist es falsch, alles zu schnell auf Judas zu schieben. In dem Moment, in dem Jesus sagt: „Einer von Euch wird mich verraten“, fragt jeder Einzelne aufgeregt: „Bin ich’s?!“ Allein die Frage zeigt mir, wie unsicher, wie aufgeladen die ganze Situation war. Wie wenig wir wissen, wie wir am nächsten Tag handeln werden. Wie wenig wir selbst uns vertrauen können. Ich hätte nicht gern dabeigesessen. Ich hätte nicht gewusst: Herr, bin ich’s?
Werde ich irgendwann so tun, als ob ich ihn nicht kenne, so wie Petrus?
Wäre ich am Kreuz weggelaufen, wie die Jünger?
Hätte ich in der Konfrontation mit den römischen Soldaten alles, was ich von Jesus gelernt habe, über Bord geworfen und zum Schwert gegriffen?
Hätte ich nach der Kreuzigung das Weite gesucht, wie die beiden Jünger, die sich nach Emmaus absetzen?
Ich weiß es nicht. Und solange ich es nicht weiß, bleibt ein Rest Respekt vor Judas. Vielleicht auch Angst, Weil ich nicht weiß, ob nicht irgendwann, in irgendeiner schwierigen Situation, in irgendeiner Krise irgendeiner Beziehung, nicht der Verräter in mir die Oberhand gewinnt. Wenn ich von einem Freund enttäuscht bin. Wenn in die Ehe der Alltag einkehrt und andere Mütter plötzlich auch schöne Kinder bekommen. Wenn ich in einem Land leben würde, in dem Glauben gefährlich ist.
Beim letzten Essen von Jesus mit seinen Jüngern, das zugleich auch das erste Abendmahl war, wird mit Händen greifbar, wie zerbrechlich die Gemeinschaft ist. Am Tag drauf werden Versprechen gebrochen wie am Abend zuvor das Brot. „Herr, bin ich’s?“ Der Kelch geht an niemandem vorbei. Und Jesus bleibt mittendrin sitzen. Hält die bröckelnde Gemeinschaft aus, hält zusammen, was noch zusammenzuhalten ist. Taucht mit dem, der ihn ausliefern wird, die Hand in die Schüssel. Zuckt nicht zurück, bleibt nah, bleibt da. Teilt mit allen Brot und Wein. Baut seine Kirche auf den, der in nicht einmal vierundzwanzig Stunden dreimal sagen wird: „Ich kenne diesen Menschen nicht.“ Hält auch das aus. Und kehrt nach all dem wieder zurück, drei Tage später. Ohne ein Wort des Vorwurfs, ohne die schmerzhafte Frage: „Warum?“ Nur mit dem heilenden Satz: „Friede sei mit euch.“
Judas wird das nicht mehr erleben. Für Judas gibt es in dieser Welt kein Ostern, keine Auferstehung, keine Möglichkeit, die Hände in die Wunden zu legen und zu erkennen und zu bekennen: „Mein Herr und mein Gott.“ Jesus steht wieder auf. Judas bleibt unten. Aber so wenig, wie wir wirklich erfassen, wirklich verstehen können, was ihn zum Verrat getrieben hat, und so wenig wir seine Rolle in dem Geschehen begreifen können, so wenig wissen wir auch über das, was dazwischen passiert. Judas Hoffnung bleibt der Karsamstag.
Im Heidelberger Katechismus heißt es (44): „Warum steht im Glaubensbekenntnis ‚abgestiegen in die Hölle‘?“ Und er gibt die Antwort: „Damit wird mir zugesagt, dass ich selbst in meinen schwersten Anfechtungen gewiss sein darf, dass mein Herr Christus mich von der höllischen Angst und Pein erlöst hat, weil er auch an seiner Seele unaussprechliche Angst, Schmerzen und Schrecken am Kreuz und schon zuvor erlitten hat.“
Sie haben so viel miteinander erlebt.
Auf langen staubigen Straßen miteinander gestritten.
Gedacht, sie wüssten Bescheid. Und immer wieder erkannt, wie wenig sie wussten.
Wollten Hütten bauen und endlich ein Zuhause finden, und durften es nicht.
Haben mit Dämonen gekämpft und sind nur um Haaresbreite selbst davon gekommen.
Wollten übers Wasser laufen und haben dabei kalte Füße bekommen.
Wollten sich mit Schwert und dem eigenen Leben zwischen Jesus und die Soldaten stellen – und wurden zurückgepfiffen.
Konnten oder wollten das Kreuz nicht tragen, den letzten Weg nicht mitgehen, die Hoffnung nicht über den Tod hinaus festhalten.
Lachten halb höhnisch, halb genervt, als die Frauen vom leeren Grab erzählten.
Und dann das.
„Friede sei mit euch.“
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