Freitag, 30. März 2018

Pastor Fritz und KarfreiT4g - Predigt mit Friedrich v. Bodelschwingh

Die kursiven Partien stammen aus einer Karfreitagspredigt von Friedrich von Bodelschwingh d. J., abgedruckt in: Lebendig und frei. Predigten 1. Folge, Bielefeld ²1947, 92-99.

Karfreitag 1945. 30. März. 
Dresden brennt. 
Budapest ist befreit. 
Ebenso Limburg, Remagen, Wiesbaden und Mannheim. 
Hildesheim liegt in Trümmern. 

In der Zionskirche der Anstalt Bethel bei Bielefeld steigt Pastor Fritz auf die Kanzel. Ordnet seine Blätter, lässt den Blick über seine Gemeinde schweifen. Mitarbeitende, Ärzte, Pflegerinnen und natürlich Bewohnerinnen und Bewohner der von Bodelschwinghschen Anstalten, des Lebenswerks seines Vaters. Und sein eigenes. Viele kennt er mit Namen. Elfriede, die Mongoloide mit den sorgfältig geflochtenen Zöpfen. Heinrich, der Fallsüchtige, der nur mit Helm draußen herumlaufen darf. Magdalene, die Schwachsinnige, die am liebsten „Guten Abend, gute Nacht“ singt. Johannes, für den sie gar kein Etikett haben, der weder läuft noch spricht noch singt. Ein Großteil der Gemeinde: Lebensunwertes Leben in den Augen derer, die gerade den Krieg verlieren. 



Nun stehen wir im Geist unter Christi Kreuz. Still, ganz still stehen wir da. Das wilde Getümmel dieser Tage weicht für einen Augenblick zurück. Die weltgeschichtlichen Entscheidungen, die sich jetzt vollziehen, verlieren ihr Gewicht gegenüber der heilsgeschichtlichen Entscheidung, die auf Golgatha gefallen ist. Was in den sechs Stunden des Karfreitags geschah, das wirkt in alle Ewigkeit hinein. 

Karfreitag ist der Tag, an dem die Verhältnisse auf den Kopf gestellt und damit zurechtgerückt werden. Gottes Sohn stirbt am Kreuz. Ein Heide, der römische Räuberhauptmann, erkennt ihn als den, der er ist und war und sein wird. Sechs Stunden auf dem Schädelberg sind entscheidender als sechs Jahre Krieg und zwölf Jahre NS-Diktatur. Das Tausendjährige Reich, das in weiten Teilen schon in Trümmern liegt, verblasst im Licht der Ewigkeit. Unter dem Kreuz wird als Schuld erkannt und benannt, was in den Naziblättern noch als Heldentaten gefeiert wird. 

Niemand kann das Geheimnis des Sterbens Jesu fassen, der nichts von eigener Schuld weiß. Bei uns ist alles am verkehrten Ort, bei ihm alles am rechten Platz. Dann fangen wir an, uns zu schämen. Wir empfangen, was unsere Taten wert sind. Diese Unterschrift dürfen wir gewiß auch unter das setzen, was wir in der Geschichte unserer Tage mit tiefem Schrecken erleben. Dabei denken wir nicht an die Schuld einzelner Menschen, nicht nur an die Schuld unseres Volkes, sondern wir denken zunächst an unsere eigene Schuld. Wieviel hat bei uns selbst, in unserer Bethelgemeinde, in der Christenheit unserer deutschen Heimat am verkehrten Platz gestanden! Nun rückt Gottes gewaltige Hand es zurecht. Wieviel ungeschicktes, liebloses, kaltes, eigenwilliges Handeln hat es bei uns, in unserer Bethelgemeinde, und in der ganzen Christenheit gegeben! Nun streicht Gottes Gericht das alles durch. Wir beugen uns unter sein Gericht. Auch wenn es unsere äußere und innere Existenz völlig zu zerschlagen droht. 

Friedrich von Bodelschwingh weiß, wovon er redet, wenn er von Schuld in seiner Bethelgemeinde spricht. Von eigener Schuld. Auch er hat sich anfangs täuschen lassen, hat ohne Not den Treueeid auf Hitler geschworen und 1936 einen Aufruf zu den Reichstagswahlen veröffentlicht. 1931 sagt er auf einem medizinischen Kongress Worte, die ihm wahrscheinlich selbst schon 1945 unmöglich schienen: „Ich würde den Mut haben, vorausgesetzt, dass alle Bedingungen gegeben und Schranken gezogen sind, hier im Gehorsam gegen Gott die Eliminierung an anderen Leibern zu vollziehen, wenn ich für diesen Leib verantwortlich bin.“ Von 3.000 Bewohnerinnen und Bewohnern mit Behinderungen der Betheler Anstalten werden während des Dritten Reichs 1.700 zwangssterilisiert, mit Bodelschwinghs ausdrücklicher Billigung. 

Erst mit der Zeit beginnt er, sich von den Nazis zu distanzieren. So wie Bodelschwingh sich selbst im Schächer am Kreuz wiedererkennt, erkennt er in den Reaktionen der Menschen um Jesus herum auch die Reaktionen auf die Mitglieder seiner Betheler Zionsgemeinde wieder: 

Die Stimmen der vielen Leute, die des Weges vorüberkamen und nichts anderes sahen als den Allerverachtetsten und Unwertesten, voller Schmerzen und Krankheit. Da war eine Gestalt, die ihnen nicht gefallen konnte. 

 Als die Nazis ab 1940 mit der Aktion T4 im Stillen die „Ausmerzung lebensunwerten Lebens“ beginnen, wehrt sich von Bodelschwingh. Mit offenem Protest und mit zivilem Ungehorsam, der seiner Gemeinde das Leben rettet. Im Mai 1945 wird er sagen: „Wir wollen uns auch nicht mit dem Hinweis darauf decken, dass wir vieles nicht gewusst haben, was hinter den Stacheldrähten der Lager und in Polen und Russland geschehen ist.“ Bodelschwinghs Kollege und Mitaktivist, Pastor Braune, wurde für sein Engagement von der Gestapo in Schutzhaft gesteckt. Für das, was Bodelschwingh kurz vor Kriegsende von der Kanzel sagt, hätte er einige Jahre zuvor wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt werden können. Einigen seiner Amtsbrüder ist das passiert. 

Hätten die Nazis Sinn für Poesie gehabt, hätten sie ihn auch früher drankriegen können. 1927 schreibt Bodelschwingh ein Lied für Karfreitag. Aus unbekannten Gründen verschwindet es in der Schublade. Erst in dem Gottesdienst, dessen Predigt wir hier in Auszügen hören, wird es erstmals öffentlich gesungen. Aber es wird vorher in einer Kirchenzeitung abgedruckt, 1938, eine Woche vor dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich. 

Nun gehören unsre Herzen ganz dem Mann von Golgatha. 

Das war ein zutiefst politischer Satz in einem System, das Anspruch auf den ganzen Menschen erhob, das darauf abzielte, die Bevölkerung von frühester Kindheit an mit der nationalsozialistischen Ideologie zu impfen, alle Lebensbereiche zu durchdringen. Das wird überall ein zutiefst politischer Satz sein, wo geistige und politische Strömungen, Regierungen oder Wirtschaftsunternehmen Anspruch auf den ganzen Menschen erheben. Überall dort, wo Paulus‘ Satz gesagt werden muss: „Ihr seid teuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte.“ 

Tief und tiefer wir uns neigen 
vor dem Wunder, das geschah, 
als der Freie ward zum Knechte 
und der Größte ganz gering, 
als für Sünder der Gerechte 
in des Todes Rachen ging. 

Wer aufmerksam liest, wird auch 1938 erkennen können, dass das Kreuz Christi und das Hakenkreuz nicht zusammengehen. Auch, wenn im Jahr 1938 erschreckend viele Christinnen und Christen das dachten. Auch, wenn heute wieder Parteien, die aus ihrer Sympathie für das Dritte Reich keinen Hehl machen, das Kreuz als politisches Symbol besetzen wollen. Und wenn Politikerinnen und Politiker, die zweifellos keine Nazis sind, aber erschreckend kurzsichtig, versuchen, auf dieser Welle mitzuschwimmen. Als 1945 die evangelischen Kirchen das Stuttgarter Schuldbekenntnis verfassten, hätten sie vielleicht nicht gedacht, wie aktuell es 2018 sein würde: „Wir hoffen zu Gott, daß durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde.“ 

Der Freie wird zum Knecht, der Große wird gering. Der Gerechte wird gerichtet. Wo sonst die Arme zum deutschen Gruß emporschnellen, wird sich verbeugt. Tief und tiefer. An Karfreitag werden die Verhältnisse auf den Kopf und damit richtig gestellt. Will jemand der erste sein, der soll der letzte sein vor allen und aller Knecht, hat der gesagt, dessen Tod wir heute gedenken. Mit nationalsozialistischer Herrenmenschenideologie ist das unvereinbar. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet, heißt es bei Jesaja, in einem der Texte, die von Anfang an wichtig für die Deutung des Todes Jesu waren. 
Das steht auch quer zu unseren modernen Märchen von Selbstoptimierung, bei denen es allerletzten Endes um Selbstrechtfertigung und Selbstrettung geht. Unterm Kreuz wird klar, dass das nicht funktioniert. Beim Todesurteil über Jesus aus Nazareth haben die öffentliche Meinung, die politischen Entscheidungsträger und die religiöse Elite in beispielloser Einigkeit zusammengewirkt. An seinem Sterben wird deutlich, wie sehr die Welt zum Tod drängt und sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. 
So wird das Lied von Bodelschwingh, so wird sogar ein noch viel älteres und viel staubigeres Lied wie „O Haupt voll Blut und Wunden“ zum Protestsong in der Welt der Fitness-Apps, Schönheits-OP's und Coachingschwemme. 

Doch ob tausend Todesnächte 
liegen über Golgatha, 
ob der Hölle Lügenmächte 
triumphieren fern und nah, 
dennoch dringt als Überwinder 
Christus durch des Sterbens Tor. 

Auch das so eine Strophe, die einen 1938 den Kopf hätte kosten können. Er hat es nie gesagt, aber man wird Bodelschwingh unterstellen können, dass er „der Höllen Lügenmächte“ sehr genau identifizieren konnte, als er ihnen sein trotziges „Dennoch“ entgegenstellte. Ein „Dennoch“, das nachhallt. Das mir Mut macht inmitten von Diskussionen um fake news und alternative Fakten. Die Wahrheit wird uns freimachen. 

Karfreitag 1945. 30. März. 
Dresden brennt. 
Budapest ist befreit. 
So wie Limburg, Remagen, Wiesbaden und Mannheim. 
Hildesheim liegt in Trümmern. 
In der Betheler Zionskirche ist Pastor Fritz am Ende seiner Predigt angelangt. Gleich wird sein Karfreitagslied zum ersten Mal gesungen, von einem vielstimmigen und sehr durchwürfelten Chor: Die unbeirrbar festen Soprane der Diakonissen, die zittrigen Tenöre der ältere Mitarbeiter, die in Teilen unverständlichen Laute der Bewohnerinnen und Bewohner, die sich freuen, wenn gesungen wird. Er lässt den Blick über seine Gemeinde schweifen. Viele sind da, weil er die Kurve gekriegt und sich widersetzt hat. Einige, die früher immer da waren, fehlen. Sind umgekommen bei den Luftangriffen auf die Anstalt vor wenigen Wochen, 58 insgesamt. 519 Mitglieder der Gemeinde werden im Krieg gefallen sein. In die grauen Busse nach Hadamar musste kein einziger einsteigen. Pastor Fritz ordnet seine Blätter. Die letzten Sätze gehen auch auswendig. Er hat sie bewusst einfach gehalten, in kurzen Sätzen, damit alle sie hören und verstehen. Auch Elfriede. Und Heinrich. Und Magdalene. Und Johannes. 

Wir wollen diese Botschaft des Karfreitags um so stiller hören, um so tiefer fassen, weil jetzt alle irdischen Türen nur in eine dunkle Zeit zu führen scheinen. Christus ist gestorben, damit wir heute nicht verzagen müssen. Christus ist gestorben, damit wir wissen: ER läßt uns nie allein, auch dann nicht, wenn unser Leben lauter Sterben wird. Scheinen unsere Wege völlig dunkel, dann gibt er uns die Gewißheit: Auch in der tiefsten Dunkelheit ist er bei uns. Mit mir, sagt er, mit mir. Überall, wo wir mit ihm sind und er mit uns, da ist auf dieser von Kampf und Leid erfüllten Erde ein Stück Himmelreich. Amen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen