Sonntag, 22. Juli 2018

Gott treibt zwischen den Planken | Predigt über Joh 6,1-15

Manche Geschichten werden mehrfach erzählt. Immer wieder. Manchmal kurz hintereinander, manchmal mit etwas Abstand nochmal. Ich habe gelernt: Wenn ich gleich abwinke und sage: Kenne ich schon, verpasse ich etwas. Übersehe die Bedeutung, die die Geschichte für die Erzählerin hat. Überhöre die kleinen Nuancen, die winzigen Details, in denen sich die Geschichte von Mal zu Mal unterscheidet. 

Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend zum Beispiel. Oder der Viertausend. Markus erzählt sie. Gleich zweimal. So wie Matthäus. Lukas erzählt sie auch. Und Johannes – wir haben seine Version gerade gehört. Sechsmal eine ähnliche Geschichte vom Sattwerden. Vom Endlich-mal-genug-Haben. Das spricht für die Bedeutung, die die Geschichte gehabt hat, damals, für die ersten Christinnen und Christen. Die bei Wundergeschichten nicht gleich unbequem auf ihren Stühlen hin und her gerutscht sind, weil sie nicht in ihr Weltbild passten. Denen herzlich egal war, wie genau das jetzt abgelaufen sein könnte. Sie kannten das Problem: Hunger. Mangel. Die Angst, am Ende des Tages hungrig nach Hause zu gehen und für ihre ebenso hungrige Familie nur ein Achselzucken übrig zu haben. Für sie zählte das Endergebnis, als Verheißung, als Anspruch, als Versprechen: Jesus macht satt. Gott macht satt. Nicht nur seelisch-geistlich – dafür ist wenig Platz, wenn der Magen sich vor Hunger windet. Sondern auch körperlich. Und Gott sorgt dafür, dass genug für alle da ist. Sogar mehr als genug. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren und einsam sind. Punkt. Oder Ausrufezeichen. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren und einsam sind! 

„Niemand soll ertrinken müssen!“ Das hat unser Präses Manfred Rekowski vor einigen Tagen gesagt in einem Videotagebuch von seiner Reise nach Malta. Er hat dort Seenotretter besucht. Sie kümmern sich um diejenigen, die fliehen. Vor Problemen, deren Wurzeln zum Teil in Europa liegen. Vor Kriegen, die sie nicht angezettelt haben und die mit Waffen unter anderem aus Deutschland ausgefochten werden. „Das Bildmaterial enthält belastende Sequenzen“, warnt die Website unserer Landeskirche: „Es zeugt von der Entdeckung zweier Toter und einer sterbenden Frau“ zwischen den Planken eines Schiffswracks. Es sind „unerträgliche“ Bilder, „Bilder zum Wegsehen“, sagt der Präses in diesem Video mit fahler Stimme in der kleinen Küche eines Rettungsdienstes. „Aber wir dürfen nicht wegsehen.“ Die Organisationen, die die Schiffbrüchigen retten, sind seit einigen Tagen beispiellos pauschaler und böswilliger Kritik ausgesetzt, unser Präses auch, unter anderem auf der Facebookpräsenz der Landeskirche. 

„Ich verachte diese menschenverachtende Heuchelei, die denen hilft, die ins Meer springen [...], es ist Gotteslästerung“, schreibt einer. „Die Kirche mischt sich in Sachen ein, die sie nichts angehen“ ein anderer. Von „elenden Gutmenschen“ eine dritte. Gott will nicht, dass Menschen hungern und frieren oder ertrinken. Manchen Menschen hingegen scheint das egal zu sein. Oder zumindest scheinen sie es als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen, weil man ja schließlich nicht allen helfen kann und weil sie meinen, man solle, so noch jemand anderes auf der Facebook-Seite, lieber erst den Menschen vor Ort helfen. 

Bei den Kommentaren dreht sich einem der Magen genauso um wie beim Video mit dem Leichenfund auf dem Mittelmeer. Ich möchte dahinter nicht nur Bösmenschentum und die Verrohung der Diskussionskultur vermuten. Ich ahne, dass es dabei auch um die Angst geht, dass es nicht genug ist. Die Angst, derer sich Populisten bedienen, wenn sie das Leid vor unserer Haustür gegen das Leid anderswo in der Welt ausspielen. Eine Angst, die auch Johannes in seiner Version der Geschichte zu Wort kommen lässt: 

Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. 

Die Jünger sind so kurz davor, die Leute hungrig nach Hause zu schicken. Weil die Aufgabe unlösbar erscheint – der Jahreslohn eines Arbeiters würde nicht ausreichen, die Leute satt zu machen, und erst recht nicht die kleine Reisekasse, die die Jünger dabeihaben. Er hat ja vielleicht sogar Recht – wenn er die Rechnung ohne Gott macht. Wenn wir bei dem, was wir tun, immer nur von dem ausgehen, was wir haben oder leisten können. Dann entfalten die Zahlen ihre bedrohliche Eigendynamik, die alles lähmen und zum Stillstand bringen kann. 

Zahlen und ihre Magie. 1405 Ertrunkene im Mittelmeer – und eine unschätzbare Dunkelziffer. Vielleicht haben Sie in den letzten Tagen das auch anderswo spüren können, mit einer Zahl, die uns ebenso direkt betrifft: „Die Kirchen verlieren 2017 660.000 Mitglieder“, titelten die großen Zeitungen. Eine Zahl, die erschlägt, die lähmt, die das Gefühl geben kann: Es hat doch alles keinen Zweck! Aber auch eine Zahl, die unterschlägt, hinter der verborgen bleibt, dass die steigende Zahl der Taufen und der Aufnahmen die Kirchenaustritte überwiegt. Die meisten der 660.000 Menschen sind gestorben, nicht ausgetreten. Natürlich bleibt die Zahl groß und hoch. Aber wenn wir davon ausgehen, dass Gott mit dieser Kirche noch etwas vorhat, dann spielen solche Zahlen keine Rolle. 

Gott hat etwas vor. Das ist die Grundmelodie, die die Geschichte trägt, so wie Johannes sie erzählt. Der hier und dort Andeutungen einstreut, Erinnerungen an die Geschichte vom Exodus, von Israels Flucht aus Ägypten. Erinnerungen an erfrischende Wasserquellen in der unbarmherzig heißen Wüste. An Schutz vor übermächtigen Feinden. An die Erfahrung: Gott ist da. 

Wo ist Gott im Mittelmeer? Wenn ich Bilder sehe von Ertrunkenen, die zwischen Schiffstrümmern treiben, dann denke ich mit Eli Wiesel: Gott treibt zwischen den Planken. Aber ich glaube auch: Gott ist mit dabei auf den Rettungsschiffen. Christus wird in diesem Moment der Einlauf in den Hafen in Italien verweigert. Und Gott sorgt dafür, dass die Helferinnen auf den Schiffen nicht nur Tote im Wasser finden. So wie Gott dafür sorgt, dass der bescheidene Beitrag eines kleinen Jungen, fünf Brote und zwei Fische, ausreicht, um 5000 Menschen satt zu machen. Wer vom reichsten Teil der Welt aus Gott klagt, warum anderswo Menschen verhungern, muss sich fragen lassen, wo seine fünf Brote und zwei Fische sind, mit denen Jesus ein Wunder machen will. 

Manche Geschichten werden mehrfach erzählt. Weil sie Wichtiges zu sagen haben, etwas, das wir uns selbst sagen lassen müssen. Mehrfach. Immer wieder: Gott will nicht, dass Menschen verhungern, erfrieren, ertrinken oder vor Einsamkeit eingehen. Und Gott ist da. Meistens. 

Am Ende erzählt Johannes etwas, das nicht leicht zu hören ist: Jesus entzieht sich. Er stiehlt sich davon. Macht sich aus dem Staub, verschwindet in die Einsamkeit der Berge, als die Menge ihn gewaltsam zu etwas machen will, was er nicht sein kann. Zu einem Herrscher mit irdischen Zielen, irdischen Möglichkeiten, irdischen Plänen. 

Gott ist da, ja. Christus ist da, ja, überall, wo zwei oder drei in seinem Namen beisammen sind. Aber er entzieht sich, wenn wir ihn vereinnahmen und missbrauchen wollen für unserer Ziele, unsere Zwecke, unsere Zwänge. München, 24. April 2018. Der frischgebackene Ministerpräsident verkündet seinen ersten Amtserlass: In jeder bayrischen Amtsstube soll ein Kreuz hängen. Ausdrücklich nicht als religiöses Symbol, sondern als Bekenntnis zu unserer bayrischen Identität. Im darauffolgenden Blitzlichtgewitter merkt niemand der Anwesenden, dass Jesus sich nach einem schmerzerfüllten Blick auf das eigenhändig von Söder aufgehangene Kreuz still und leise verabschiedet und davonstiehlt. Vielleicht geht er in die Berge, um allein zu sein und für uns zu beten, dass nicht alles so kommen möge, wie wir es heraufbeschwören. „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Vielleicht setzt er sich neben einen Bettler und macht aus einem Euro in dessen Hut genug für ein Abendessen. Vielleicht geht er in eine Flüchtlingsunterkunft und sorgt dafür, dass das kleine bisschen Kraft, dass die junge Mutter noch hat, ausreicht, um ihre Kinder heute Nacht in den Schlaf zu wiegen. Vielleicht heuert er auf der Lifeline an und sorgt dafür, dass die Puste der Retter, die eigentlich schon längst ausgegangen ist, noch reicht, um alle Lebenden aus dem Meer zu ziehen. Vielleicht lässt er sich ins Wasser sinken und treibt neben den Leblosen zwischen den Planken. Damit sie nicht allein sind. 

Manche Geschichten müssen erzählt werden. Immer und immer wieder. Amen. 


1 Kommentar:

  1. "Die bei Wundergeschichten nicht gleich unbequem auf ihren Stühlen hin und her gerutscht sind, weil sie nicht in ihr Weltbild passten. Denen herzlich egal war, wie genau das jetzt abgelaufen sein könnte."
    So ein Quatsch. Im NT selber findet sich doch genug "wie kann das jetzt passiert sein?" - inkl.: "er muss vom Teufel sein (Magie o.ä.)", "es ist Täuschung", "Lüge", ... .
    Diese eisegesierende Verhamlosung, die dem - gerade, weil so oft überliefert, nach historischen Maßstäben sehr gut belegten - Ereignis den Zahn ziehen will, ist ganz schön dröge.
    Die Verknüpfung mit der Flüchtlingsthematik dagegen ist recht nice. Was dabei dann am Endeuntergeht ist, dass im Text eben allein Jesus handelt, und die Jünger nur ausführen. In der Predigt dagegen gibt es böses und gutes Handeln (durchaus nachvollziehbar), aber am Ende hängt es an uns. Es höngt eben nicht an den Jüngern, ob die Menschen satt werde, sie stellen sich dem Ganzen nur nicht in den Weg. Womit in der Geschichte Jesus seine Göttlichkeit beweist. Und in der Predigt Kirche und Mensch die Möglichkeit haben, ihre gute Menschlichkeit zu beweisen. Würde meinen, dass das verkürtzt ist

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