GOTTES VERLOREN GEGANGENES BLAU
So spricht der HERR der Heerscharen: Es werden noch Völker kommen und Bewohner vieler Städte. Und die Bewohner der einen werden zur anderen gehen und sagen: Lasst uns hingehen, um das Angesicht des HERRN zu besänftigen und um den HERRN der Heerscharen zu suchen! Auch ich will gehen! Und viele Völker und mächtige Nationen werden kommen, um den HERRN der Heerscharen in Jerusalem zu suchen und um das Angesicht des HERRN zu besänftigen.
Die Sonne steht hoch über dem Platz vor der Klagemauer. Die Touristen nehmen sich eine kostenlose weiße Kippa aus den bereitstehenden Kästen, die Juden haben ihre eigene dabei, wenn sie sie nicht schon aufhaben. Der Ort ist heilig. Gott wohnt in den Ruinen, heißt es, und so fließen beim Anblick der mächtigen, von Rissen durchfurchten Sandsteinmauer die Ehrfurcht vor Gottes Nahsein und die Trauer über den zweimal zerstörten Tempel ineinander. Wie überall in Jerusalem, wie eigentlich immer im Judentum sind Dank und Klage nur einen Herzschlag voneinander entfernt. Manche legen sich ihren Tallit an, den blauweißen Gebetsmantel, an den die blauweiße Flagge Israels erinnert. Dann treten sie an die Mauer und legen die Stirn an den heißen Sandstein, zwischen den Rissen und Ritzen, in die tausende und abertausende kleiner Zettel gesteckt sind. Gebete, Wünsche, Segenssprüche. Lautlos beten sie: Barukh atah Adonaj, Eloheinu, v'Elohei Awotenu, Elohei Awraham, Elohei Jizhak, vElohei Ja'akow. - Gelobt seist du, Ewiger, unser G'tt und G'tt unserer Väter, G'tt Abrahams, G'tt Isaaks und G'tt Jakobs.
Bei jeder kleinen Bewegung zittern die Tzitziyot, die weißen, geknoteten Fäden an den Ecken des Gebetsmantels. Früher, vor 2000 Jahren, waren sie blau. Aber mit der Zerstörung des zweiten Tempels ist das Wissen verlorengegangen, welches Blau dafür verwendet wurde. Bis heute weiß man es nicht. Und so erinnern die weißen Fäden an Gottes verlorengegangenes Blau. So wie wir uns heute am Israelsonntag an Wissen über unsere Herkunft erinnern, das in der Kirche lange verloren gegangen war, das unsere Väter und Vätersväter vergessen, verdrängt oder verleugnet haben.
ZIZIYOT – GOTTES ERINNERUNGSANKER
Vier geknotete Fäden, früher blau, heute weiß,
an jeder Ecke des Gebetsmantels.
Planvoll angebracht auf Anweisung von ganz oben.
Und der Herr sprach zu Mose: Rede mit den Israeliten und sprich zu ihnen, dass sie und ihre Nachkommen sich Quasten machen an den Zipfeln ihrer Kleider und blaue Schnüre an die Quasten der Zipfel tun. Und dazu sollen die Quasten euch dienen: sooft ihr sie anseht, sollt ihr an alle Gebote des Herrn denken und sie tun.
Die Fäden sind Erinnerungsanker Gottes. Hilfsmittel, die dafür sorgen, dass Gott im Klein-Klein des Alltags nicht vergessen wird. Stolpersteine auf dem Weg, die zum Stehenbleiben auffordern. Zum Innehalten, während der Tag weiter fließt. Einmal durchatmen. Die Augen vom Boden heben und den Blick nach oben riskieren. Im Blau des Himmels eine Welt dahinter erahnen und spüren: Es macht einen Unterschied, ob man glaubt oder nicht. Es spielt eine Rolle. Es ändert das Leben. Es erinnert an Gottes Spielregeln für eine friedliche Welt: Brich mit den Hungrigen dein Brot. So einer nackt ist, dann kleide ihn. Und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus.
Menschen brauchen solche Erinnerungsanker Gottes. Zu keiner Zeit, an keinem Ort der Welt ist Glauben nur einfach oder selbstverständlich gewesen. Immer und immer wieder überspült die Brandung des Alltags die guten Vorsätze: Ich wollte ja eigentlich öfter beten oder in die Kirche gehen. Sie kennen das. Hierzulande erfüllen die Kirchenglocken diese Funktion. Sie sagen nicht nur die Zeit an, sondern rufen zum Gebet. Zum kurzen Innehalten, zum Stillwerden und in den Himmel Hineinspüren, bis der letzte Glockenschlag verklungen ist. Während wir hier in der Kirche das Unservater beten, läutet draußen die Glocke und lädt auch die Menschen, die nicht hier sind, dazu ein, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Einzustimmen in den Chor aus unzähligen Stimmen und Sprachen, in Gedanken einen kleinen Zettel für Gott in den Riss in der Mauer zu stecken mit einem Namen, einer Bitte, einem Dank. Auch in unseren Kalender sind solche Erinnerungsanker eingestreut, Feiertage, an denen im Laufe des Jahres Gottes Geschichte mit uns durchbuchstabiert wird und wichtige Themen in Erinnerung gerufen werden, vom Advent über Weihnachten, Passionszeit, Ostern, Pfingsten, Himmelfahrt bis hin zum Totensonntag. Und mittendrin im Sommerloch der Israelsonntag, der seit knapp vierzig Jahren an etwas erinnert, über das unsere traditionellen Glaubensbekenntnisse schweigen: Gott ist in Israel zur Welt gekommen. Wir brauchen Erinnerungsanker. Und diesen ganz besonders.
So spricht der HERR der Heerscharen: In jenen Tagen, da werden zehn Männer zugreifen aus allen Sprachen der Nationen, sie ergreifen den Saum eines Judäers und sagen: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist bei euch!
GLAUBEN AM ROCKZIPFEL LERNEN
Wir lernen Glauben durch andere. Von anderen. Mit anderen. Bei Manchen sind das die Eltern, die vor dem Essen oder Schlafengehen ein Gebet sprechen. Bei Manchen die Oma, die in jedes Brot vor dem Anschneiden ein kleines Kreuz ritzt. Wieder andere durch die Lieder geistlicher Dichter, die das in Worte fassen, was sie selbst spüren oder ahnen, aber nicht so richtig beschreiben können. Der überwiegende Teil aller Worte in diesem Gottesdienst stammt nicht von uns selbst, sondern aus Formulierungen, die sich seit Jahrhunderten, zum Teil Jahrtausenden bewährt haben, die tragen und sicherlich auch herausfordern.
Wir lernen Glauben am Rockzipfel. Auch, wenn wir das vielleicht gar nicht wollen. An jemandes Rockzipfel zu hängen, das klingt unselbständig und ängstlich. Und das kann es sein, auch im Glauben, wenn man sich krampfhaft an alten Zöpfen festklammert, als gelte es das Leben. Und unsere Kirche hätte sich keinen Millimeter von der Stelle bewegt, wenn nicht hier und dort mutige Männer und Frauen die alten Zöpfe losgelassen hätten. Aber in den allermeisten Fällen haben sie dann einen anderen Faden aufgenommen, der irgendwann schon einmal da war und vergessen worden ist, und haben daran angeknüpft. Als Luther von der Rechtfertigung allein aus Glauben sprach, konnte er das aufnehmen, was Augustin und vor ihm schon Paulus gesagt hatte. Als Theologinnen im letzten Jahrhundert begannen, spezifisch weibliche Perspektiven auf Gott freizulegen, konnten sie an Frauen und ihre vergessenen Geschichten anknüpfen, von Eva über Miriam, Deborah, Maria und Elisabeth bis hin zu Lydia und Junia. So wurden im Lauf der Zeit immer wieder verlorengegangene Farben Gottes neu entdeckt und in die Zipfel am Saum des Mantels eingewoben und verknotet. Und von einem Zipfel kommen wir nicht los, wenn wir uns weiter Christinnen und Christen nennen wollen.
JESU GEBETSMANTEL
Und siehe, eine Frau, die seit zwölf Jahren den Blutfluss hatte, trat von hinten an Jesus heran und berührte den Saum seines Gewandes. Denn sie sprach bei sich selbst: Wenn ich nur sein Gewand berühre, so werde ich gesund. Jesus trägt einen jüdischen Gebetsmantel. Hat ihn nie wirklich abgelegt. Die Frau berührt nicht einfach den Saum, sondern greift nach einem der geknoteten Fäden, in dem noch das Blau, das verlorengegangen ist, schimmert. Hält sich daran fest. Und jeder Goj, jeder Nicht-Jude, der sich an Christus festhält, der zu ihm sagt: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen“, spricht auch nach, was Sacharja den Völkern in den Mund legt: Wir wollen mit euch gehen, denn wir haben gehört: Gott ist bei euch.
WESTERN WALL REVISITED
Die Sonne ist hinter Felsendom, Goldkuppel und Klagemauer gewandert. Der Vorplatz liegt im Schatten, aber immer noch drängen Leute nach, Juden und Nicht-Juden. Hinter den Militärkontrollen sieht man schnell, wer Tourist ist und wer hier das Hausrecht hat. Die einen ziehen ihre mitgebrachte Kippa auf, wenn sie nicht schon eine tragen, waschen sich an den vorgesehenen Wasserstellen, legen ihren Gebetsmantel um, treten vor die Mauer und legen die Stirn an den Sandstein, der noch die Hitze des Tages gespeichert hat. Die anderen treten erst unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, dann gucken sie, wie Juden es machen, und tun es ihnen gleich. Wir haben gehört: Gott ist bei euch. Amen.
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