Donnerstag, 18. Juli 2013

Ab ins Tiefe - Predigt über Lk 5,1-11



Liebe Gemeinde,

„Nicht ins Tiefe“, schärfen wir unseren badenden Kindern ein, wenn sie noch nicht so gut schwimmen können, nicht zu weit weg vom Ufer, nicht dahin, wo die Füße nicht mehr den Boden berühren. Zur Urlaubszeit wird immer wieder vor dem Schwimmen in unbekannten Gewässern gewarnt, wo man die Strömungen unter der Oberfläche und mögliche Untiefen nicht einschätzen kann. 
(c) A. Dreher / pixelio.de
Rund 65% der Erdoberfläche gehören zur so genannten „Tiefsee“, also die Abgründe im Meer, in denen es bis zu 10.000 Metern tief hinunter geht. Dort herrscht nahezu vollständige Dunkelheit, die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt und dem Druck der Wassermassen kann kein Mensch standhalten. Rund 1% dieser Tiefsee ist erforscht, selbst über die Rückseite des Mondes wissen wir mehr. Wir wissen, dass es da unten Leben gibt. Bizarres, seltsames Leben, vielleicht  kennen sie Bilder von Tiefseefischen, die mit riesigen Mäulern und Zähnen wie die Seeungeheuer aus alten Seefahrergeschichten aussehen.

Der Volksmund raunt: „Stille Wasser sind tief“, und meint damit, dass sich unter der Oberfläche so mancher stiller Zeitgenossen Ungeahntes abspielt, schlafende Hunde, die man besser nicht weckt.

Die Tiefe ist also nicht ungefährlich, Ungeahntes kann hier zu Tage treten – vielleicht spielt sie deswegen im heutigen Predigttext eine Rolle. Hören sie selbst die bekannte Geschichte vom „Fischzug des Petrus“ aus Lukas 5:


Es begab sich aber, als sich die Menge zu ihm drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze.  Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus! Und Simon antwortete und sprach: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so daß sie fast sanken. Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen (lebendig) fangen. Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgten ihm nach.


Wir befinden uns noch am Rand des Sees, relativ am Anfang des Evangeliums – und doch hat Jesus aus Nazareth schon von sich reden gemacht. Eine Volksmenge drängt sich um ihn, Menschenmassen, die ihn hören wollen. So viele, dass er sich Platz schaffen muss; er geht zu den Fischern, die am Rand des Sees ihre Netze waschen und lässt sich von ihnen wie eine schwimmende Bühne bereitstellen: Er bat sie, ein wenig vom Ufer wegzufahren. Da steht er dann und redet, und die Menge hört staunend zu. Das kennen wir: Religiöse Großevents haben Hochkonjunktur, und sicherlich kann man sich fragen, wie tief derartige Massenveranstaltungen überhaupt gehen können.

Vielleicht kann das nur entscheiden, wer dabei gewesen ist. Unser Bibeltext schweigt sich darüber aus, die Volksmenge verschwindet irgendwann aus dem Bild an den Rand. Jesus hat fertig gelehrt. Nun kommt eine Einzelbegegnung inmitten des Trubels in den Blick, eine Begegnung zwischen Jesus und Petrus, in dessen Boot er sitzt:

Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!

Fahre hinaus, wo es tief ist. Fahre hinaus, weg vom Ufer und seinen seichten Gewässern. Fahr dorthin, wo Du den Boden unter den Füßen verlierst, wo Du keinen Grund siehst, wo Du nicht weißt, was sich unter der Oberfläche abspielt. Und werft eure Netze dort zum Fang aus.

Und mit der Antwort von Petrus sind wir schon in tieferen Gewässern unterwegs:

Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen

Hier schwankt der Schiffsboden schon ganz gewaltig, hier sind wir nahe am Abgrund: Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Was dem Freizeitangler die Urlaubsstimmung vermiest, vielleicht kennen Sie das ja aus der Familie, bedeutet im professionellen Fischfang eine mittlere Katastrophe – auch heute noch: Die ganze Nacht gearbeitet, Zeit, Geld und Arbeitskraft investiert – und der erhoffte Fang bleibt aus, das überlebensnotwendige Tagesgeschäft ist bedroht. Heute werden keine Fische verkauft, heute kommt kein Geld rein, heute werden die Familien unter Umständen hungrig ins Bett gehen.

Hier sind wir auf dem Weg in die Tiefe, denn das Eingeständnis ist kein leichtes: Es war alles umsonst. Alle Mühen, alle Arbeit – es hat nichts genützt. Vor einigen Wochen standen in NRW die Abiturprüfungen an. Es wird manche Schülerin und manchen Schüler gegeben haben, der mit genau diesem Gefühl nach Hause gegangen ist – und mit der Angst, genau diesen Satz zu sagen: Nächtelang gearbeitet, und es hat nichts genützt.

Aber Petrus redet weiter. Und seine Reaktion ist doch eher unerwartet:

auf dein Wort will ich die Netze auswerfen

Wir wissen nicht, was sich auf diesem Boot zwischen Jesus und Petrus abgespielt hat, das Petrus, den erfahrenen Fischer, dazu veranlasst hat, sich von einer Landratte aus Nazareth Tipps geben zu lassen. Noch dazu eigentlich völlig unsinnige, denn mitten am Tag fährt in Galiläa kein Fischer, der was auf sich hält, raus. Vielleicht hatte dieser Jesus ein besonderes Charisma. Vielleicht hatte Petrus einfach nichts zu verlieren. Vielleicht liegt es auch daran, dass Jesus selbst mit im Boot sitzt. Dass er nicht einfach dabei steht und vom Ufer aus gute Ratschläge zuwirft, sondern selbst auf den Wellen auf und ab schaukelt und Petrus auf dem Weg ins Tiefe begleitet.

Liebe Gemeinde, lassen wir auf dem Weg ins Tiefe hier das Ruder mal einen Moment ruhen, setzen kurz den Anker und bleiben bei diesem Gedanken. Denn ich glaube, hier blitzt der Grundgedanke des biblischen Gottesbildes auf: Er sitzt mit im Boot. Davon weiß das jüdische Volk Geschichten zu erzählen: Gott ist mit ihnen, er zieht mit ihnen durch turmhohe Meeresfluten und brennend heißen Wüstensand. Vorhin haben wir uns Worte aus dem Jonapsalm geliehen, aus dem verzweifelten Hoffnungsgesang, den der in die Irre gegangene Prophet im Bauch des Fisches anstimmt, in dem er erkennt, dass er auch als Ertrinkender, dem die Luft ausgeht, dem sich das Schilf wie eine Schlinge um den Hals legt, nicht dauerhaft von Gott getrennt ist. In Jesus Christus hat Gott seine Sympathie für uns, sein (wörtlich übersetzt) Mit-Leiden auf die Spitze getrieben, auf die Spitze des Schädelberges namens Golgatha, um von dort aus in die tiefsten Tiefen von Tod und Gottverlassenheit hinabzustürzen.

Jesus sitzt mit im Boot. Das gibt Petrus den Mut, ins Tiefe zu gehen. Das ist doch auch das, was uns im Leben den Mut gibt, in die Tiefe zu gehen, uns unseren eigenen Abgründen und den heiklen Fragen zuzuwenden: Nicht der gut gemeinte Ratschlag, das aufmunternde Zurufen vom Ufer aus, sondern die Hand auf der Schulter von einem, der mit im Boot sitzt.

Für Petrus zahlt sich der Weg ins Tiefe aus, auch, wenn er alles andere als stress- und risikofrei ist.

Erstens: Wer in die Tiefe geht, kann einen großen Fang machen, größer als an der Oberfläche, wo sie alle, Sport- und Freizeitfischer und Gelegenheitsangler, ihre Ruten und Netzte ins Wasser halten. Weil sich manche Fische in die Tiefe zurückziehen. Und weil das Flachwasser und die Oberfläche abgefischt sind.

Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen,

so der Text. Wer in die Tiefe geht, der wird etwas hochholen.  Das kann etwas so Gewaltiges sein, dass es die eigenen Kräfte fast übersteigt. Petrus erkennt dieses Risiko und ruft die anderen Fischer zu Hilfe. Das ist die zweite Einsicht dieses Weges ins Tiefe, dieses Fischens am Grund: Ich schaffe es nicht allein:

Und sie winkten ihren Gefährten, die im andern Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so daß sie fast sanken.

Petrus sieht, dass er Hilfe braucht – und spricht es aus. Auch das nicht ganz einfach, auch für uns nicht. Und er macht die wunderbare Erfahrung, dass er nicht allein ist. Mit Jesus im Boot stellen sich ihm andere an die Seite, um mit vereinten Kräften gemeinsam den Fang in der Tiefe an Land zu bringen, zu sichern und zu verarbeiten. Auch das ist nicht ohne Dramatik, der Fang ist so gewaltig, dass die Boote fast sinken – und wer andere dabei begleitet, wenn es ins Tiefe geht, der wird erleben, dass man da auch an die Grenzen der eigenen Kraft gehen kann. Das geht den ehrenamtlichen Mitarbeitenden im Hospiz nicht anders als dem Freund oder der Freundin, die bis in die Nacht mit am Küchentisch sitzt, Tränen trocknet und Schweigen erträgt.

Und drittens lernt Petrus etwas über sich selbst, denn der Weg in die Tiefe bleibt ambivalent. In dramatischer Sprache fährt der biblische Text fort:

Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch. Denn ein Schrecken hatte ihn erfaßt und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten.

(c) Lara Dengs / pixelio.de
Wer in tiefen Gewässern fischt, holt nicht nur die dicksten glänzenden Speisefische nach oben, sondern wirbelt vielleicht auch den Schlamm auf dem Grund des Sees auf – und stößt auf so manch versunkene Überreste, stinkende Fischkadaver oder rätselhafte, erschreckende Tiefseebewohner. Erkenntnisse über sich selbst, die nicht ohne Grund im Schlamm auf dem Grund des Sees verschüttet waren, Einsichten und Erinnerungen, die schwer zu tragen sind. Petrus zwingt es in die Knie, er sagt zu dem, der ihn in die Tiefe begleitet hat: Geh weg von mir. Ich bin ein sündiger Mensch. Da unten lauern Dinge, die so fundamental falsch gelaufen sind. Dinge, die ich getan habe oder die mir passiert sind, die andere mir getan haben, die so schäbig sind, dass ich mich vor mir selber ekele.

Wir wissen nicht, was Petrus gesehen hat, als er sich im tiefen Wasser gespiegelt hat. Wir wissen nicht, welche versunkenen Erfahrungen an die Oberfläche gekommen sind. Was sieht Petrus in der Tiefe? Was sehen wir, wenn wir uns selbst auf den Grund gehen?

Es ist bezeichnend, dass die Bibel die Intimität dieser Begegnung schützt. Lukas berichtet nur von der Reaktion Jesu – und vielleicht ist das das eigentlich Wundersame, das Unerwartete, das Heilvolle und das Rettende in dieser Geschichte, viel mehr als der wundersame Fischfang: Jesus wendet sich nicht ab. Er bleibt im Boot.

Fürchte dich nicht, sagt er. Ich weiß, was Du gesehen hast. Ich weiß, wer Du ist. Aber ich bleibe bei dir. Mehr noch: Von nun an sollst Du Menschen fangen, die Übersetzung ist hier etwas missverständlich, man kann auch lesen: Von nun an sollst Du Menschen das Leben schenken, für das Leben in den Bann ziehen, zu neuem Leben verhelfen. Jetzt kann Petrus das, weil er sich mit Jesus an der Hand ins Tiefe gewagt hat, sich selbst auf den Grund gegangen ist und die Erfahrung gemacht hat, dass dieser sich nicht abwendet.

Diese Begegnung verändert sein ganzes Leben. Und sie brachten die Boote an Land, verließen alles und folgten ihm nach.

Man kann nicht ewig in der Tiefe bleiben. Es geht wieder zurück an Land, zurück auf festen Boden – und doch ist nichts, wie es war.

Das ist das Verheißungsvolle an diesem Text, an diesem Tiefgang.
Fahr hinaus, dorthin, wo es tief ist. Trau dich weg vom Ufer und seinen seichten Gewässern, weg von der Oberfläche, von den Menschenmassen mit ihren Erwartungen. Fahr hinaus, dorthin, wo es tief ist. Und fürchte dich nicht, denn, so spricht Christus: Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt.

Amen.

(c) Lichtkunst.73 / pixelio.de

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