Montag, 15. Juli 2013

The Sense of Urgency, oder: Was Kirche und Baumarkt gemeinsam haben

Da sitzt man noch ganz beeindruckt von den grandiosen gemeindlichen Aufbrüchen in den Niederlanden am Schreibtisch und schreibt über das dort in all seiner Härte erkannte Ende der Selbstverständlichkeit volkskirchlicher Relevanz:
Das ungeschönte Krisenbewusstsein, ein „sense of urgency“ und das Eingeständnis, mit den über Jahrzehnte selbstverständlichen und gleichermaßen diffusen Konzepten von „Volkskirche“ an einem Ende angekommen zu sein. Das vermisse ich in Deutschland, wo die Situation sicherlich weniger prekär als in den Niederlanden ist. Aber es kann durchaus auch nur eine Frage der Zeit sein, bis auch wir gar keine andere Wahl mehr haben. Vielleicht sind wir noch nicht so weit – bekanntermaßen ist Leiden ja einfacher als Verändern. Und vielleicht ist unser Leidensdruck noch nicht groß genug, vielleicht sind die pseudotheologischen Beschwichtigungsformeln, mit denen wir unsere Statistiken schön reden, noch zu wolkig und zu mächtig.

Und am selben Tag geht ein Brief der rheinischen Kirchenleitung an die Kirchenkreise und landeskirchlichen Einrichtungen raus, zwei Tage später wendet sich der rheinische Präses Manfred Rekowski in seinem Videoblog an die Öffentlichkeit. Der Tenor: Die finanzielle Lage sieht schlecht aus, dramatischer als gedacht. Der Präses sagt: "Wir werden uns kleiner setzen müssen" - im Klartext heißt das unter anderem, dass im landeskirchlichen Haushalt in den nächsten fünf Jahren 35% eingespart werden sollen und "dass wir die Arbeitsweise, die Arbeitsformen und Strukturen unserer Kirche umfassend verändern müssen." 

Wieder einmal ist es das (fehlende) Geld, das die Brisanz der Situation deutlich macht, im Präsesblog ist mehrfach von einem "Kassensturz" die Rede, der Klarheit brachte. Das allein weckt die Frage, ob nicht all die anderen Zahlen der letzten Jahre gereicht haben: Die desaströs geringe Gottesdienstteilnahme (manchmal auch als vermeintlich "evangelische Freiheit, 'Nein' zum Gottesdienst zu sagen", verbrämt), die niedrige (aktive wie passive) Beteiligung bei Presbyteriumswahlen, all die Anzeichen dafür, dass wir mit unseren Kernangeboten nur äußerst wenige Menschen erreichen. Vielleicht braucht man das Gefühl von Objektivität und Sachlichkeit, das die nackten Zahlen vermitteln, und die gedankliche Entlastungsmöglichkeit, das, was nicht läuft, auf das Schreckgespenst des demografischen Wandels abzuwälzen. Vielleicht gilt auch, was einem Bischof der anglikanischen Kirche zugeschrieben wird: "Gott hat immer die richtige Sprache gefunden, um seiner Kirche zu sagen, dass etwas falsch läuft. Die Sprache, die wir verstehen, ist die des Geldes."

Ganz ungefährlich sind die Zahlen als Motoren und Motivatoren organisatorischen Umdenkens indes nicht, darauf hat u.a. Christian Möller nachdrücklich hingewiesen:


Sind Zahlen erst einmal vorhanden, so lösen sie ihre eigene Logik aus und lähmen die Kirche, so daß sie vor ihrer futuristisch hochgerechneten Zukunft wie ein Kaninchen vor der Schlange erstarrt und dem adventlich zukommenden Reich Gottes nichts mehr zutraut, da es empirisch nicht verwertbar zu sein scheint. 
- Chr. Möller, Lehre vom Gemeindeaufbau. Bd. 1, Göttingen ²1987, 22.


Aber lassen wir das für einen Moment, und machen wir einen kurzen gedanklichen Sprung zu einem anderen Großunternehmen, dessen finanzielle Not dieser Tage Schlagzeilen macht: Die Baumarktkette Praktiker hat Insolvenz angemeldet. In den zahl- und wortreichen, dabei einander oft ähnlichen Kommentaren und Analysen zur Situation (interessant und anders: Stephan Kaufmann) werden vor allem zwei Ursachenkomplexe hervorgehoben. Zum Einen falsch eingesetzte Ressourcen: "Der Verwaltungsapparat ist aufgebläht [...]. Im Übrigen, in den letzten eineinhalb Jahren wurden 80 Millionen Euro alleine für Berater-Gutachten ausgegeben", so eine Großaktionärin - ein Schelm, wer hier an Kirche denkt. Zum Anderen die berühmt-berüchtigte ("Zwanzig Prozent auf alles außer Tiernahrung"), am Ende aber kolossal "fehlgeschlagene Rabattstrategie. Sie brachte dem Unternehmen ein Billig-Image, beschädigte die Marke".

Die Assoziationen, die das unschöne Stichwort "Billig-Image" in mir weckt, kann ich nicht so leicht abschütteln, wie ich es gerne täte. Ebensowenig die leisen, aber nervig pochenden Fragen: 

Wir tragen mit leidenschaftlichem Pathos unseren Anspruch vor, "Kirche für alle" sein zu wollen - aber fallen wir uns nicht mit der skandalösen und dabei in den meisten Gemeinden beharrlich betriebenen Milieuverengung selbst ins Wort? 

Und sind wir nicht in unseren irgendwann vielleicht sogar mal begründeten, mittlerweile aber vielerorts zu automatisierten und selbstgefälligen Schattengefechten degenerierten Abgrenzungen von der Enge und Strenge früherer Generationen übers Ziel hinausgeschossen? 

Laufen wir nicht Gefahr, mit unseren fehlgeschlagenen religiösen Rabattstrategien eine theologische Insolvenz herbeizuführen? (Ja, ich schmeiße ein paar Euro ins Phrasenschwein.)

Statt "Kirche für alle" (ob und wie das im Einzelfall funktionieren könnte, sei mal dahin gestellt, auch die Frage nach der theologischen Begründung lassen wir mal tunlichst außen vor) zu sein, haben wir uns vor allem zur "Kirche für alle, die gerne in Ruhe gelassen werden" entwickelt. 
Wir sind sehr geübt darin, den unentschlossenen Mitgliedern am Rand der Kirche, meist im vorauseilenden Gehorsam, Beschwichtigungsformeln zuzurufen, um ihnen ein wohlwollendes Kopfnicken zu entlocken und das Versprechen, dann doch weiter Kirchensteuer zu bezahlen, statt dem Roten Kreuz etwas zu spenden. Und nehmen damit diejenigen Menschen nicht ernst, die nach Perspektiven suchen, die über das hinausgehen, was sie sich auch selbst sagen können.
Wir halten uns für religionspädagogische Avantgarde, weil unsere Konfirmand_innen nichts mehr auswendig lernen müssen - und nehmen ihnen damit die Chance, in Auseinandersetzung mit traditionellen und bewährten Formulierungen ihre eigene religiöse Sprachlosigkeit zu überwinden
Wir missbrauchen die an sich wichtige Einsicht von der Vorläufigkeit allen menschlichen Tuns und der Brüchigkeit unserer Erkenntnis, um damit unausgegorene und handwerklich schlecht gemachte Predigten, lieblos zusammen geschusterte Gottesdienste und theologisch bestenfalls halbgare Richtigkeiten zu legitimieren. 
Wir inszenieren uns als "Kirche für alles", halten für jede öffentliche Veranstaltung ein gefälliges Grußwort bereit und freuen uns über unsere Relevanz als Akteure im öffentlichen Leben, verdrängen dabei aber oft genug unseren prophetischen Auftrag, der uns dazu bringen könnte, die Intentionen so mancher Veranstaltung, die wir mit einem religiösen Goldrand versehen und damit legitimieren, in Frage zu stellen.

Um es klar zu stellen: Es geht nicht darum, angesichts einer unbequemen und unübersichtlichen Postmodernen den neofundamentalistischen Fluchtreflexen zurück zu einer autoritären "Is so!"-Theologie nachzugeben. Aber vielleicht darum, den externen Beraterinnen und Beratern, denen wir so viel Geld hinterherschmeißen, mal zu glauben, wenn sie uns durch die Bank raten, uns auf unser "Kerngeschäft" zu konzentrieren und die oftmals hausgemachte Angst abzulegen, man würde uns dadurch für religiöse Spinner halten - und damit auch endlich die innerkirchlichen Grabenkämpfe des letzten Jahrhunderts ruhen zu lassen.

Und es geht darum, die prekäre Situation nicht als Damoklesschwert am reißenden Faden, sondern als kairós zu entdecken, als einen geschenkten Anlass, unsere kirchliche Praxis und die dahinter stehenden ekklesiologischen Grundentscheidungen oder Missverständnisse zu hinterfragen.

9 Kommentare:

  1. hmm, viele gute Gedanken und ich stimme dir in vielem zu - Punkt.
    aber doch: lösen sich die Herausforderungen mit genug Mut und Gottvertrauen nur selbst? oder wie lässt sich der kairos "richtig" nutzen? müsste dafür das Kerngeschäft und das Wesen des Evangeliums nicht erst scharf bestimmt werden, weil sonst Beliebigkeit droht (vgl. das Extrem-Beispiel http://www.srf.ch/sendungen/perspektiven/hoert-auf-zu-glauben-gespraech-mit-pfarrerin-ella-de-groot )...?

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    1. Hallo Katrin!
      An die Geschichte mit der Schweizer Pfarrerin dachte ich beim Schreiben auch. Ich würde sagen, dass die Konzentration auf das "Kerngeschäft" auch eine Besinnung auf inhaltliche "Markenkerne" beinhaltet - und ggf. den schmerzlichen Trennungsprozess von Arbeitsfeldern. Das bedeutet nicht, dass überall vereinheitlicht werden muss oder soll, aber es braucht, glaube ich, an jedem Standort den Mut zu fragen: Welche Angebote haben wir um ihrer selbst Willen, und welche wenden sich wirklich an die, die wir nicht sowieso schon erreichen?
      LG

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  2. Auch wenn es radikal erscheint, aber müssen wir uns auch fragen ob wir wirklich noch "Volkskirche" sein wollen? Was ist, wenn das "Volk" gar keine Kirche mehr will? Sollten wir dann nicht zunächst versuchen die zu halten die wir noch haben? Ist eine innere Konsolidierung nicht Voraussetzung für ein (dann vielleicht wieder kommendes) Wachstum nach außen?
    Ist das Konzept des Vereins etwas für die Kirche? Damit die Gemeinde ihre Arbeit fortführen kann werden die Kosten pro Jahr auf alle Mitglieder umgelegt. Wäre das eine Lösung?

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    1. Hallo Maltheos, und danke fürs Mitdenken und Mitdiskutieren!
      Die Frage ist ja, was mit "Volkskirche" gemeint ist. Wolfgang Huber (Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theolorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1983, 133-138) hat herausgearbeitet, dass dieser Begriff höchst unterschiedlich verstanden wurde:
      (1) In seiner Entstehungszeit von Schleiermacher etwa im Protest gegen die obrigkeitlich herbeigeführte Kirchenunion in Preußen als "Kirche durch das Volk";
      (2) Zwanzig Jahre später (1848) meinte Wichern damit die "Kirche hin zum Volk", also mit volksmissionarischem Anspruch;
      (3) Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts verschob sich der Fokus hin zu einer "Nationalkirche", bei gleichzeitigem Verschwinden der Kritik gegen das Staatskirchentum;
      (4) Zur gleichen Zeit, als der Einfluss der Kirche zu erodieren begann, wurde mit dem Begriff das Ziel einer umfassenden pfarramtlichen Versorgung verstanden;
      (5) Ab dem 20. Jahrhundert war damit der Öffentlichkeitsanspruch der Kirche im Blick auf die Gesamtgesellschaft gemeint.

      Ich glaube, in den meisten Fällen ist sehr ungeklärt, was "Volkskirche" eigentlich heißen soll - und das ist nur symptomatisch für eine Identitätskrise der Institution, die es nicht schafft, ekklesiologische Ansprüche und empirische Befunde auf einen Nenner zu bringen.
      LG

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  3. Natürlich ist Volkskirche ein Begriff den man schön polemisch vor sich hertragen kann und der gut funktioniert um sein Meinung / Rolle darzustellen. Aber

    (1) Kirche gegen den Staat ist in Deutschland so gut wie nicht mehr gefordert, da der Staat der Kirche viele Freiheiten lässt. Allenfalls im Land Berlin so weit es den Religionsunterricht betrifft steht die Kirche (als Institution) gegen eine bestimmte Politik.

    (2) Diese Vorstellung könnte wieder auf unsere Situation zutreffen. Deutschland wird noch nicht wirklich als Missionsgebiet gesehen, aber es gibt in den Kirchenleitungen Vorstellungen von "missionarisch Volkskirche" sein.

    (3) Eine Staatskirche haben wir nicht mehr. Eine Nationalkirche in gewisser Weise schon - die EKD - aber dennoch sind die Landeskirchen sehr autonom. Und wenn ich das (aus meiner Sicht) liberale Rheinland sehe sage ich auch zum Glück.

    (4 und 5) Sind die Punkte die als erstes "fallen" werden. Wenn es einen Pfarrer für 5 Gemeinden gibt, dann gibt es zwar vielleicht einen Gottesdienst, aber ansonsten keine kirchliche Arbeit.

    Sollte alles so weit den Bach runtergehen, was ich momentan nicht hoffe und wovon ich momentan auch nicht ausgehe, dann muss man sich wirklich fragen ob man entweder überall einen Gottesdienst alle 14 Tage haben will, oder ob man manche Gemeinden "aufgibt" um in anderen mehr als nur einen Gottesdienst bieten zu können.

    Die EKiR hat angesicht dem drohenden Wegbrechen der geburtenstarken Jahrgänge ab 2018 Panik bekommen und versucht verzweifelt zu sparen.
    Aber ich glaube, dass nicht entscheidend ist wie viel man spart, sondern, dass man neue Kirchensteuerzahler, also Mitglieder (und Mitgliederinnen) gewinnt.

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    1. Hm... Die Formulierung: "Es gibt in den Kirchenleitungen Vorstellungen von 'missionarisch Volkskirche sein'" trifft es, glaube ich, ganz gut. Auf der Landessynode, auf der das entsprechende Papier verabschiedet oder bestätigt wurde, entfiel ein Großteil der z.T. hitzigen Diskussion im Plenum auf den kleinen Buchstaben 'e' - konkret: Ob wir "missionarische Volkskirche" oder "missionarisch Volkskirche" sein wollen...

      Die Szenarien, die Du beschreibst, gehen m.E. von falschen oder zumindest diskutablen Voraussetzungen aus, nämlich von der zentralen Stellung des Sonntagsgottesdienstes (in den klassischen Einzugsgebieten der Erweckungsbewegung zum Beispiel spielt die "Stunde" oder der Hauskreis z.T. eine weit größere Rolle) - und von einer Pfarrerzentriertheit, die theologisch nicht notwendig ist. Die "recte vocatio" ist aber nicht an die Wahl in eine Pfarrstelle gebunden. Es gibt einige ganz brauchbare Praxisentwürfe für Gottesdienste im kleinen Kreis und/oder ohne Pfarrer. Und gerade hier setzt ja das in mehreren Landeskirchen mittlerweile zumindest auf dem Papier bevorzugte "Epheser-4-Modell" an: Von der Pfarrerzentrierung abzurücken und die Gemeindeglieder zu pastoralen Diensten zu befähigen.

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    2. Zum Epheser 4 Modell gibt es ja sowohl ein wunderschönes Buch von Schneider und Lehnert, als jetzt auch ein neues Konzeptpapier von der EKIR (ekir.de/pfarrbild). Meine Meinung dazu möchte ich an dieser Stelle nicht ausführen (sonst spam ich deinen blog noch mehr zu), sondern verweise einfach (ganz uneigennützig) auf meinen eigenen blog.

      lg

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  4. Mehr Individualität und Selbstbewusstsein der Pfarrer gegenüber der Vorgabe "eine Volkskirche" zu sein würde eher dem heutigen Trend mehr entsprechen. Die Menschen möchten einzeln Wahrgenommen werden. Lieber Klasse statt Masse. Sonst die "Restgläubigen" auch noch weg.

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    1. Hallo Anonym!
      Ja, ich glaube, dem kann ich mich anschließen. Gleichzeitig frage ich mich, wie das im Einzelnen aussehen kann. Und wünsche mir mehr Mut von Gemeinden, ihre Entscheidungskriterien bei der Pfarrwahl offen zu legen und aus einer auf Zukunft gerichteten Perspektive kritisch zu hinterfragen.
      Herzliche Grüße
      von den Kirchengeschichten

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