Freitag, 26. Dezember 2014

Krippengeschichten - (Lied-)Predigt am 1. Weihnachtsfeiertag

Der Weg nach Bethlehem ist nicht einfach. Selbst dann, wenn man keine hochschwangere Frau dabeihat, selbst im Zeitalter der Autos und der geteerten Straßen. Von Jerusalem aus sind es nur wenige Kilometer, aber der direkte Weg ist versperrt durch eine meterhohe Mauer, mit der die israelische Regierung palästinensische Selbstmordattentäter fernhalten will. Bethlehem liegt in den palästinensischen Autonomiegebieten. Mit einem israelischen Mietwagen ist dort kein Durchkommen, man muss einen arabischen Taxifahrer finden, der einen über den nächsten Checkpoint fährt. Das ist nicht allzu schwer, denn die meisten Taxifahrer in Jerusalem sind Araber und haben außerdem Cousins auf der palästinensischen Seite, die eine Führung durch die Geburtskirche anbieten und ihrerseits wiederum Cousins haben, die einen Andenkenladen besitzen. Die Fahrt zieht sich, denn man muss einen Umweg fahren. Hinter der Grenze sieht es aus wie vor der Grenze, steinige, ausgeblichene Hügel, soweit das Auge reicht. An den Kreisverkehren, die von der Hauptverkehrsstraße in die Dörfer hinein führen, große rote Schilder: Israelischen Staatsbürgern ist es verboten, die großen Wege zu verlassen. Zu groß ist die Gefahr, mit Steinen oder schlimmerem beworfen zu werden. Der Weg nach Bethlehem ist nicht einfach, man muss Umwege in Kauf nehmen, um zur Krippe zu kommen. 

1. Ich steh an deiner Krippen hier, 
o Jesu, du mein Leben; 
ich komme, bring und schenke dir, 
was du mir hast gegeben. 
Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, 
Herz, Seel und Mut, nimm alles hin 
und lass dir’s wohlgefallen. 

Wir stehen in einem der vielen Andenkenläden, die die Straße hinauf zur Geburtskirche in Bethlehem säumen. In den Regalen reihen sich Krippe an Krippe, in allen nur erdenklichen Größen, die kleinste nicht größer als eine Streichholzschachtel, die Figuren der größten gehen mir bis zum Knie. Die meisten Figuren und Gebäude sind aus heimischem Olivenholz geschnitzt, unbehandelt, aber höchst traditionell. Der Verkäufer versucht, mich von den Vorzügen einer, wie ich finde, ziemlich hässlichen Krippe zu überzeugen. „Nein, danke“, sage ich, „ich habe schon eine Krippe.“ Der Verkäufer sieht mich entgeistert an. „Aber mein Herr“, entgegnet er, „jeder hat mehr als eine Krippe.“ „Das mag sein“, antworte ich, „aber meine Krippe hat eine Geschichte.“ Er sieht mich schweigend an. Dann sagt er bedeutungsvoll: „Jede Krippe hat eine Geschichte.“ 



2. Da ich noch nicht geboren war, 
da bist du mir geboren 
und hast mich dir zu eigen gar, 
eh ich dich kannt, erkoren. 
Eh ich durch deine Hand gemacht, 
da hast du schon bei dir bedacht, 
wie du mein wolltest werden. 

3. Ich lag in tiefster Todesnacht, 
du warest meine Sonne, 
die Sonne, die mir zugebracht 
Licht, Leben, Freud und Wonne. 
O Sonne, die das werte Licht 
des Glaubens in mir zugericht’, 
wie schön sind deine Strahlen! 

Im Foyer des Ludwigshafener Elias-Hospiz steht eine große Holzkrippe. Sie ist recht neu, erst vier Jahre alt, und ist die Stiftung eines Geschäftsführers eines diakonischen Unternehmens. Er stammt aus einer Familie von Krippenbauern. Im November 1944 hat es angefangen. Der Vater war zur Messe im Freiburger Münster. Nur deswegen überlebte er einen Bombenangriff, bei dem sein Elternhaus zerstört und große Teile seiner Familie getötet wurden. Am nächsten Morgen beginnt er, seine erste Krippe zu zimmern. Die Trauer wird umgeleitet in eine produktive Handlung, aus den Trümmern entsteht etwas Neues. Jedes Jahr wird der Vater nun eine Krippe bauen, und alle vier Söhne werden in seine Fußstapfen treten. Viele Krippengeschichten sind Kriegsgeschichten. 

So wie die der Morbacher Krippe im Hunsrücker Holzmuseum mit dem überregionale bekannten „kriegsversehrten Hirten“, deren Geschichte auch Ende 1949 begann. Eine Krippenbesitzerin erinnert sich: „Der Weihnachtsbaum lag am Boden in der Stube, keine Kugel war mehr ganz, darunter kreuz und quer die Krippe. Die Heilige Familie war unversehrt geblieben, doch den Hirten hatte es schwer erwischt. Kopf und Finger waren ab und die Flöte für immer unbrauchbar. Ich klebte den Kopf mit einem aus Mehl hergestellten Kleber wieder an. Finger und Flöte waren nicht mehr zu retten. Die für immer bleibenden Narben am Hals und die Schäden am kriegsversehrten Hirten erinnern jedes Jahr an die Kriegsweihnacht 1944.“ 

4. Ich sehe dich mit Freuden an 
und kann mich nicht satt sehen; 
und weil ich nun nichts weiter kann, 
bleib ich anbetend stehen. 
O dass mein Sinn ein Abgrund wär 
und meine Seel ein weites Meer, 
dass ich dich möchte fassen! 

5. Wann oft mein Herz im Leibe weint 
und keinen Trost kann finden, 
rufst du mir zu: »Ich bin dein Freund, 
ein Tilger deiner Sünden. 
Was trauerst du, o Bruder mein? 
Du sollst ja guter Dinge sein, 
ich zahle deine Schulden.« 

Zurück im Bethlehem der Neuzeit. Der Weg dahin ist nicht einfach, denn durch Bethlehem und angrenzende Städte frisst sich eine mehrere Meter hohe Mauer. Wir wandern ein paar hundert Meter an dieser Mauer entlang, auf der palästinensischen Seite ist sie bunt bemalt mit Graffiti und Protest- und Mutmachsprüchen in allen möglichen Sprachen. Wir sprechen mit Yusuf, Josef, der ursprünglich aus Nazareth kommt, aber kein Zimmermann ist, sondern Bauer, und dessen Felder nur knappe vierhundert Meter von seinem Wohnhaus entfernt liegen, leider zur falschen Richtung hin. Dazwischen liegt die Mauer, und Yusuf muss jeden Tag eine Dreiviertelstunde nach Norden zu einem besonderen Checkpoint für Landwirtschaftsfahrzeuge fahren, dort bis zu drei Stunden warten, und auf der Rückfahrt wieder, all das vor Einbruch der Dunkelheit. Er fährt an der einzigen Stelle vorbei, an der auf der Bethlehemer Mauer etwas von Jesus steht, ein kurzes Zitat nicht aus der Weihnachts-, sondern aus der Vorpassionsgeschichte: Jesus wept / Dominus flevit / Jesus weinte. Auf der palästinensischen Seite ist die Mauer bunt bemalt, die Barriere wird Kunstobjekt, der glatte Beton ist beschrieben mit Protestrufen. Jesus hat einmal gesagt: Wenn die Jünger schweigen – dann werden die Steine schreien. 



Die Krippen, die in den Andenkenläden von Bethlehem zu kaufen sind, kommen ohne Mauern aus. Das Olivenholz, aus dem die Figuren geschnitzt sind, ist glatt, handschmeichlerisch, man verkauft einen Mythos, ein Klischee von heiler Welt und heiliger Familie. Heute vor 70 Jahren, als in Freiburg ein Krippenbauer seine erste Krippe baute und im Hunsrück ein Hirte mit Kleber aus Mehl restauriert wurde, hielt Martin Niemöller eine Predigt im Konzentrationslager in Dachau

"In der Kunde, die den Hirten zuteil wird, ist ihnen und uns nur ein zweifaches "Zeichen" genannt, d. h. zwei Dinge, die für dieses Kind und seine Bestimmung bezeichnend sind: Dies Kind ist in Windeln gewickelt, und es liegt in einer Krippe. Das ist alles. - Und was soll uns damit gesagt werden? Einmal dies: Das Kind, das dort in Windeln gewickelt liegt, ist ebenso schwach und hilflos wie nur irgendein Kind, das in diese Welt hineingeboren wird: Die Mutter muß es versorgen, damit es nicht zugrunde geht, muß es in Windeln wickeln, daß es nicht erfriert, muß es nähren, daß es nicht Hungers stirbt. - So sind die Windeln ein charakteristisches Zeichen und Vorzeichen für das Leben des Mannes, von dem es einmal heißen wird: "Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen." Und zum andern: Auch die Krippe ist kein malerisches Attribut, das die Poesie der Christnacht erhöhen soll; sie ist wiederum Zeichen, nämlich das Zeichen der Heimatlosigkeit dieses Kindes: "Sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge". - Und auch sie ist ein Vorzeichen: Denn aus dem Kinde wird der Mann werden, der von sich selber sagen muß: "Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nichts, da er sein Haupt hinlege!" Das sind die beiden Zeichen, die den Hirten und auch uns gegeben werden." 

Für das Unbequeme ist kein Platz in den Krippen von Bethlehem, zu instabil der Waffenstillstand, zu zerbrechlich die Gesamtsituation, zu nervös und angespannt die Lage. 
Mit dieser Begründung wird 2014 von zwei Gerichten einer Kirchengemeinde in Worms untersagt, auf dem Weihnachtsmarkt ein Krippenspiel aufzuführen. In Zeiten, in denen Pegida das Klima und die Diskussion um die Flüchtlingsproblematik vergiftet, sei das Thema zu sensibel, außerdem, so heißt es in der Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts: „Die Weihnachtsmarktbesucher haben einen Anspruch darauf, nicht wie sonst im Alltagsleben von den unterschiedlichsten Meinungen und Interessen anderer, gerade in politischer Hinsicht, behelligt zu werden, sondern ungestört das Treiben auf dem Weihnachtsmarkt genießen zu können.“ 

6. O dass doch so ein lieber Stern 
soll in der Krippen liegen! 
Für edle Kinder großer Herrn 
gehören güldne Wiegen. 
Ach Heu und Stroh ist viel zu schlecht, 
Samt, Seide, Purpur wären recht, 
dies Kindlein drauf zu legen! 

7. Nehmt weg das Stroh, 
nehmt weg das Heu, 
ich will mir Blumen holen, 
dass meines Heilands Lager sei 
auf lieblichen Violen; 
mit Rosen, Nelken, Rosmarin 
aus schönen Gärten will ich ihn 
von oben her bestreuen. 

Kurz vor Weihnachten stellen wir unsere alte Krippe im Wohnzimmer auf. Die ist ein echtes Familienerbstück: Nach dem Krieg hat Opa die Figuren gegen eine Flasche Schnaps getauscht und heimlich im Keller den Stall gebaut. Den hat Oma dann zum Geburtstag bekommen. Wenn sie an Heiligabend zu uns kommt, ist alles schon unter dem Weihnachtsbaum aufgebaut. Nur das Jesuskind will sie immer selbst in die Krippe legen, immer kurz vor sechs, keinesfalls früher, da ist sie eisern. Als wir am Tag vorher alles aufbauen, bricht fast Panik aus, denn die Figuren haben den letzten Umzug nicht so ganz unbeschadet überstanden: Josefs Nase ist abgesplittert, Maria hat nur einen Arm, und die Heiligen Drei Könige haben ihre Geschenke unterwegs verloren. Aber am Schlimmsten: Die Krippe fehlt. Als Oma an Heiligabend zu uns kommt, sind wir ziemlich nervös. Kurz vor sechs nimmt sie das Jesuskind, geht zum Weihnachtsbaum - und bleibt wie angewurzelt stehen. Mein Vater will ihr was erklären, aber sie winkt ab, geht zum Schrank und holt einen kleinen Aschenbecher raus. Vorsichtig legt sie das Jesuskind da rein und stellt ihn zwischen den Josef ohne Nase, die Maria ohne Arm, die Heiligen Drei Könige ohne Geschenke. Mitten in die ganzen kaputten und nicht mehr wirklich schönen Figuren. Aber Oma lächelt. „Jetzt stimmt es endlich“, sagt sie zufrieden. „Da gehört er hin.“ 

8. Du fragest nicht nach Lust der Welt 
noch nach des Leibes Freuden; 
du hast dich bei uns eingestellt, 
an unsrer Statt zu leiden, 
suchst meiner Seele Herrlichkeit 
durch Elend und Armseligkeit; 
das will ich dir nicht wehren. 

9. Eins aber, hoff ich, wirst du mir, 
mein Heiland, nicht versagen: 
dass ich dich möge für und für in, 
bei und an mir tragen. 
So lass mich doch dein Kripplein sein; 
komm, komm und lege bei mir ein 
dich und all deine Freuden. 

In einer anderen Zeit und einer anderen Welt, weit weg vom Betlehem und von uns, und vielleicht doch nicht, im Japan des 16. Jahrhunderts entsteht eine Handwerks- und Restaurationstechnik namens Kintsugi. Gegenstände aus Keramik oder Porzellan werden geklebt, aber der Mörtel wird nicht wie sonst der Farbe möglichst dem Gegenstand angepasst, sondern mit Goldstaub versetzt und zum Leuchten gebracht. Die Bruchstellen und Sprungkanten werden geduldet, betont, veredelt, aus dem Makel wird etwas Schönes. Liebe Gemeinde, vor ein paar Tagen schrieb ein Kollege etwas von „Weihnachtswunde“. Ein tolles Wort, fand ich. Doofes Wort, sagte er, Druckfehler. Glaub‘ ich nicht, sagte ich, und danke das bis heute. Weihnachtswunde. Dem möchte ich nachgehen, nicht mehr heute, aber ein andermal. Gelegenheiten gibt es viele, denn: Jeder Mensch hat mehr als eine Krippe. Und hinter jeder Krippe steckt eine Geschichte. Und viele dieser Geschichten haben mit Wunden zu tun – und mit Verwandlungen. Zufall? Ich glaube eher nicht. Frohe Weihnachten!



Mehr Tolles zu einer postmodernen Umsetzung von kintsugi gibt es bei Sebastian TS (das haben Marthori, FrauAuge und Simon de Vries auch schon entdeckt).

2 Kommentare:

  1. Hallo lieber Bruder,
    es stimmt nicht ganz, dass die Bethlehemer Krippen ohne Mauer auskommen... in einem Laden in Bethlehem sah ich vor zwei, drei Jahren, dass die Schnitzer eben auch Mauerstücke aus Olivenholz gefertig hatten. Man mag das beklemmend finden, bestenfalls schräg... aber ich fand es in der Situation und nach dem, was ich auf der Busfahrt vom Damaskustor aus gesehen hatte, irgendwie stimmig.

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    1. Ich habe übers Internet auch einen Hersteller aus Bethlehem gefunden, der solche Krippen anbietet. In Bethelehem selbst habe ich nur eine Stichprobe gemacht und bei drei Devotionalienverkäufern nachgefragt und, vornehm ausgedrückt, verwunderte Blicke geerntet.
      Aber danke für den Hinweis - schön, dass es das definitiv auch gibt!

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