Freitag, 31. Januar 2014

Literarisches Goldstück zum Thema "Langweilige Sitzungen"

Pünktlich zum casual friday gefunden, und zwar im Knigge für Pastoren von Will Praetorius, 1963 erschienen im Presseverlag der EKiR.
Unter dem Stichwort "Umgang mit Amtsbrüdern" heißt es zum Thema "Sitzungen":
"Wir alle kennen Sitzungen, in denen eine gereizte Atmosphäre herrscht, in denen Unsinn für Sinn gehalten und Weisheit als mangelnde Klugheit und Entscheidungskraft beurteilt wird. Da muß man ertragen lernen. Am schlimmsten sind bekanntlich langweilige Sitzungen, in denen man die Wände hinaufgehen möchte. Vielleicht ist es ein Kennzeichen guter Erziehung, wenn man es versteht, sich mit Anstand zu langweilen."


Dienstag, 28. Januar 2014

"Erstmal Opferlamm!" - Eindrücke vom Poetry-Slam-Workshop (Predigtpop I)


Als predigender Mensch sollte man den Kontakt zu Leuten suchen, die sich auf hohem Niveau mit Sprache beschäftigen. Gestern war dazu mal wieder die Gelegenheit, und zwar im Rahmen eines Poetry-Slam-Workshops zusammen mit fünf Kolleg_innen aus Düsseldorf. Dabei ging es nicht nur um zweckfreies Fortbildungsinteresse, sondern war gleichzeitig ein Instant-Trainingslager für den ersten PreacherSlam in NRW (Infos siehe unten), bei dem wir in zwei Wochen dabei sind und unter dem Motto "Schöpfung und Evolution" gegen die deutsche Poetry-Slam-Oberliga antreten. Juhu. Ich bin ja seit einem überaus demütigenden Erlebnis mit prominentem Besuch bei uns im Judo-Verein anno 1993 zurückhaltend, was das Sparring mit deutschen oder sonstigen Meistern im größeren Stil anbelangt... Aber das vergessen wir ganz schnell wieder, und ich bin guter Hoffnung, dass wir eine reelle Chance haben. Immerhin haben manche von uns länger studiert als die meisten Profislammer alt sind - das muss sich doch irgendwie lohnen! In einer früheren Auflage dieses pastoral-laikalen Dichterwettstreits unter schöpfungstheologischen Vorzeichen Anfang des letzten Jahres in Hannover hat dann auch gleich eine Theologin gewonnen - das Video der großartigen Christina Brudereck lässt mich allerdings vor Neid erblassen und fragen, ob das wirklich so eine gute Idee war, bei diesem Slam mitzumachen. Aber ums Gewinnen geht es ohnehin nicht, belehrt mich unser Referent Jan-Philipp Zymny, seines Zeichens tatsächlich deutscher Meister, und wirkt dabei so entspannt, dass ich es ihm tatsächlich glaube. Fast. Doch, eigentlich schon. Aber nun denn - worum geht es eigentlich? 

Slampoetry, Poetry Slam - weg vom Wasserglas und rein ins Zeitlimit!

Das Format Poetry Slam stammt aus den USA und ist dort, wie der Zymny erklärt, als Alternative zu den klassischen "Wasserglaslesungen" entstanden, bei denen junge und nicht mehr ganz so junge Literaten das Publikum mit ihren Texten beglücken. In Deutschland, wo man nunmehr nach dem Mutterland die weltweit zweitgrößte Poetry-Slam-Szene findet, hat man sich auf relativ fest umrissene Eckpunkte geeinigt: Vorgetragen werden ausschließlich selbstgeschriebene Texte im engen zeitlichen Rahmen von wahlweise fünf oder sechs Minuten. Requisiten sind nicht erlaubt, die Slammer_innen arbeiten nur mit dem eigenen Körper und vor allem der eigenen Stimme. Dabei wird recht schnell deutlich, dass es Grenzfälle gibt: Verkleidungen sind nicht gern gesehen, gesungen wird nur kurz, abschnitts- und zitatweise. Anmoderationen werden nicht zum eigentlichen Votrag gerechnet, sie sind aber wichtig, um eine Beziehung zum Publikum aufzubauen - außerdem soll es Untersuchungen geben, die besagen, dass Zuhörer_innen sich nie an die ersten paar Sätze eines Votrags unterhalten können, weswegen man nicht mit dem hart erarbeiteten Text anfängt. Die Wertung nimmt das Publikum vor: Für jeden Vortrag werden sieben Anwesende ausgesucht, die ihn mit Punkten von 0-10 bewerten. Um den Einfluss allzu parteiischer Wertungen möglichst gering zu halten, werden jeweils die höchste und die niedrigste Punktzahl außer Acht gelassen. Eine Regel gilt übrigens auch für das Publikum: Respect the poets - das bedeutet zum Beispiel, dass es immer einen Höflichkeitsapplaus gibt. Und dass die Zuhörer_innen nicht reinquatschen. All das kann man auch ausführlichst bei wikipedia nachlesen. 

Wenn ich diese zunächst rein formalen Punkte mit unserer Predigtpraxis vergleiche, fallen mir, je länger ich darüber nachdenke, mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede auf. Ein Unterschied ist natürlich die Zeit - noch wird uns die gute Viertelstunde zugestanden. Und wir dürfen freier mit dem Material von Kolleg_innen umgehen - die Predigtideen anderer Leute zu übernehmen und damit auf die Kanzel zu gehen, ist ausdrücklich erlaubt. Der Wettbewerbscharakter, die formalen Regeln, all das scheint zunächst den Poetry-Slam von der Predigt zu unterscheiden. Der Unterschied liegt aber meiner Meinung nach höchstens darin, dass die Regeln im einen Fall ausgesprochen sind, im anderen Fall stillschweigend vorausgesetzt werden können: Natürlich vergleichen Gemeindeglieder die Predigten verschiedener Prediger_innen, und natürlich spielen dabei auch persönliche Sympathien eine Rolle. Bei einem Stichwort halte ich mich dann doch länger auf und komme ans Nachdenken: Respect the poets. Die Slammer_innen bekommen einen Höflichkeitsapplaus, allein aus dem einen Grund: Weil sie sich trauen, auf die Bühne zu gehen. Diese Haltung finde ich eigentlich auch im Gottesdienst angemessen - gebe aber auch zu, dass ich mich als Predigthörer selbst daran erinnern muss. Respect the poets lässt sich aber auch als Aufforderung an die Mitstreitenden verstehen. Auch das ist mir sympathisch.

Was mir auch noch durch den Kopf geht, ist die Frage nach den Anmoderationen. Als Pfarrer_innen haben wir es da leichter und schwerer zugleich, denn bei uns ist die Predigt nicht unsere erste Wortmeldung im Gottesdienst, und wir haben geprägte Formeln und Wendungen zur Verfügung. Ich frage mich allerdings, ob liturgische Grüße in einer tradierten Sprachform tatsächlich noch als Begrüßung verstanden werden - auch wenn eine captatio benevolentiae, mit der man sich des Wohlwollens seiner Hörerschaft versichert, seit der Antike in jeder Rede, jedem Brief buchstäblich zum guten Ton gehört, muss man ja nicht zwingend antike Formulierungen verwenden. Auf der anderen Seite kennt man natürlich das andere Extrem, das belanglose Geblubber, mit denen in Gottesdiensten Spannungsbögen zerkloppt werden - unser Referent warnt uns wohl nicht ganz ohne Grund, die Anmoderation nicht zu zerreden. Mehr zum Thema "Liturgische Moderation" hat übrigens Harald Schroeter-Wittke in PTh 99 (2010) geschrieben. 

Von geschriebenen und gesprochenen Wörtern: Text und Performance

Die Herkunft des Poetry Slam aus Literaturlesungen scheint bedeutsamer, als im ersten Moment gedacht, denn unser Referent spricht durchgängig und mit großem Respekt vom "Text". Diese Hochschätzung des literarischen (Zwischen-)Produkts überrascht mich, weil sie quer steht zu einer Tendenz in manchen Teilen von Kirche und Theologie, das Predigtmanuskript per se für ein Übel zu halten. (Wer tiefer in die Debatte einsteigen will, dem sei die Streitschrift von Alexander Deeg, Christian Stäblein und Michael Meyer-Blanck ans Herz gelegt.) Das hat seinen wahren Kern: Es gilt das gesprochene Wort, und man merkt es einer Predigt oft auf unangenehme Weise an, wenn beim Formulieren nicht bedacht wurde, dass der Text auch noch zu Gehör gebracht werden muss. Beim Workshop wird deutlich, dass es sich hier um zwei zwar aufeinander bezogene, aber doch separate Arbeitsschritte handelt: Der Text mit einer eigenen Dignität, der dann aber zur Performance drängt. Und die wiederum ist abhängig von ihrer literarischen Vorlage - "was hilft dem Text am Besten?", oder, pädagogisch gesagt, "form follows function". Dabei wird nicht verschwiegen, dass ein tendenziell eher schlechterer Text durch eine gute Performance deutlich gewinnen kann - und umgekehrt. Das kann man finden, wie man will, aber es ist nunmal einfach so und zeigt, dass die Trennung von Form und Inhalt gar nicht scharf ist, wie wir immer tun oder es gerne hätten.

Was ich fürs Erste mitnehme:
 
 

Den letzten Satz hat unser Referent uns mitgegeben, als wir innerhalb einer halben Stunde eigene Texte vorbereiten sollen, und er bezieht ihn auf Form wie Inhalt gleichermaßen.
Am Abend komme ich nach dem Kurztraining nicht unbedingt weniger aufgeregt, aber ermutigt nach hause. Ich bin gespannt, wie die Poetry-Slam-Experience weiter geht - vielleicht sehen wir uns live am 9.2.? Und: Ich bin "angefixt" im Blick auf mein eigenes Predigen, fühle mich bestärkt und herausgefordert von diesen klugen, kreativen und engagierten Menschen, die ihre Texte unters Volk bringen wollen. Und ich freu mich, nach fast einem Monat Kanzelurlaub, total auf die nächste Predigt! Und allein dafür lohnt es sich. 



Achso, wer sich über den fachtheologisch anmutenden Titel wundert: Das "Opferlamm" ist ein Beitrag, der am Anfang eines Slam-Abends das Publikum in Stimmung bringen soll. Der läuft außerhalb der Wertung - hence the name.

Samstag, 25. Januar 2014

Predigtpop - eine kleine Themenreihe für größere homiletische Referenzrahmen


Das Predigen ist eine "Kunst unter Künsten", findet Martin Nicol im Rahmen seiner zu Recht viel beachteten dramaturgischen Homiletik. Mhhm, denke ich. Einerseits: Ja, das ist sicherlich richtig, und es gibt viel zu entdecken. Allerdings ist mir auch Kristian Fechtners Ansatz äußerst sympathisch, Predigt und Gottesdienst als Kunsthandwerk zu denken. 

Wenn man die Beispiele, die Nicol in seinen Büchern zur dramaturgischen Homiletik anführt, ernst nimmt, dann ist andererseits aber auch klar, dass die Predigt unter manchen Kunstformen eher zuhause zu sein scheint als unter anderen: Nicol geht es um DOGMA-Filme. Bach-Fugen und die unvermeidlichen Goldberg-Variationen. Miró-Skulpturen. Und dergleichen, es wird jedenfalls relativ deutlich: Homiletische Kunstgriffe lernt man am Besten in Programmkinos, beim Schlendern durch einen Skulpturenpark, in der Konzerthalle, beim jazzuntermalten Fingerfoodnaschen auf Ausstellungseröffnungen, während eines arte-Themenabends oder beim Blättern im Feuilleton.

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Bild: idealcoffee.ce

Dagegen ist zunächst einmal überhaupt nichts zu sagen. Nur: Bei den Kunstformen, denen gemeinhin eine homiletische Verwertbarkeit zugestanden wird, handelt es sich um einen äußerst schmalen und von persönlichen Präferenzen der Predigenden bestimmten Ausschnitt aus dem gesamtkulturellen Angebot. Und hier liegt, glaube ich, ein Problem: Denn es ist nur schwer vorstellbar, dass ein Mensch, der mit dem neuesten filmischen Meisterwerk von Lars von Trier schlichtweg nichts anfangen kann, sich von einer Predigt mitreißen lässt, deren Sprache und Struktur sich genau daran orientieren und die sich sich eine Ästhetik zum Maßstab nimmt, die vielen Predigthörenden nicht zugänglich ist. Das ist kein kleines Problem, denn: Ob Kunst oder Handwerk - die Predigt ist auch immer und vor allem Dienst, und zwar ein Dienst an den faktisch in der Kirche Anwesenden. Nicht an denen, die sich Prediger_in als Gesprächspartner für einen netten Abend bei einem schönen Glas Rotwein und einem guten Käse wünschen würde. Es gibt Gemeinden, in denen das deckungsgleich ist. Dann: Yippie! 

Bild: ebay.de
Was aber, wenn sich die Gottesdienstgemeinde am Sonntag oder, vielleicht eher, bei einer Kasualie überwiegend aus Menschen zusammensetzt, die mehr Helene Fischer als Heinrich Schütz hören, eher den Landarzt als Dogville gucken und sich lieber ein Poster mit einem Delfin als einen Chagallnachdruck übers Sofa hängen? Deren Esszimmerwand kein schlichtes, aber elegantes Kreuz, sondern ein großes "LOVE" aus totaaal süß bemalten Holzbuchstaben ziert? Die in der Küche einen Fernseher stehen haben? Die in einer sonntäglichen Predigt nach zwei Minuten wegknicken, aber Mario Barth (hier verläuft meine persönliche Schmerzgrenze und Ekelschranke) zwei Stunden zuhören? Es dürfte klar sein, was gemeint ist.

In der nächsten Zeit werden hier bei den Kirchengeschichten also Kunstformen ausgesprochen populärer Kultur auf ihre homiletische Verwertbarkeit hin abgeklopft, sprich: Ich gucke Schlagertextern, Comedy-Writern, StandUp-Komikern und Poetryslammern über die Schulter und versuche, für meine Predigtpraxis etwas mitzunehmen. Da die meisten Texte quasi schon fertig sind, kann ich das Fazit ja verraten: Ich finde, wir müssen unsere homiletischen Referenzrahmen erweitern. Das hat durchaus etwas Politisches, denn damit verbunden ist die Frage, welchen Milieus eigentlich die Deutungshoheit über kirchliches Leben und Handeln zusteht.

Wer sich über die kulturpolitische Forderung hinaus für homiletisches Handwerkszeug interessiert und wissen will, was Schlagertexter, Stand-Upper und Poetry-Slammer zur Predigt beitragen können - ab nächster Woche geht's los!

Donnerstag, 23. Januar 2014

Heute mal mehr Segen

Im hektischen Aufbrechen und Ineinerreiheaufstellen nach dem Grundschulgottesdienst kommt ein Zweit- oder Drittklässler nach. Er druckst ein bisschen rum und sagt leise dann: "Ich brauch eigentlich heute ein bisschen mehr Segen. Ich geb meinen ganzen nämlich meinem Cousin, der ist ganz schwer krank." Vier Mädels, wahrscheinlich aus der Klasse über ihm, bekommen das mit. "Dann kriegst Du unseren auch", kräht die eine, sie nehmen ihn in die Mitte, legen ihm die Hände auf Kopf und Schultern, und eine sagt: "Gott segne Dich. So!"
"Amen heißt das", zischt eine andere, "jetzt war das doch falsch..."

"Hat auch so geklappt. Danke", sagt der Junge und rennt raus.
 
(c) Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de
Eine erzählte Version von der Heilung des Gelähmten (Mk 2), darauf aufbauende Fürbitten, eine kurze erklärende Hinführung zum Aaronitischen Segen. Und halt Heiliger Geist. Das war eigentlich alles. So. Äh - Amen.

Mittwoch, 8. Januar 2014

Der Winter, der Hitzlsperger, die Kosten, der Nutzen, das Schweigen der Lämmer

Es dauert ja noch einen Monat, aber ich habe schon entschieden: Ich werde die Olympischen Spiele in Sotschi boykottieren. Jawoll, basta aus! Der Fairness halber muss ich dazu sagen, dass das wahrscheinlich keine Nase interessiert, weil meine Einschaltquote ohnehin nicht gezählt wird. Und ich muss zugeben, dass mir das nicht sonderlich schwer fällt, denn ich wüsste nichts, was ich langweiliger fände als Wintersport im Fernsehen. Das Testbild vielleicht, aber das gibt es ja so gut wie gar nicht mehr. Wie gesagt, es kostet mich nicht viel, mich hier heroisch zu zeigen.

(c) brash.de

Unterm Strich wird es auch den ehemaligen Amtsbruder Joachim Gauck wenig kosten, ihm aber viel einbringen, dass er nicht nach Sotschi fährt - auch, wenn das ausdrücklich nicht als Boykott zu verstehen, sondern allein protokollarischen Gründen geschuldet sei. Laut einer Stern-Umfrage finden das trotzdem 65% der Befragten richtig super. Aber den eigenen Unmut über das, was auch immer der Putin da drüben in Russland wieder anstellt, öffentlich zu machen, dürfte wiederum einen Teil dieser Befragten weitaus weniger kosten, als etwa die Lebensgefährtin der eigenen Tochter so mir nichts, dir nichts zu akzeptieren. 


Kosten und Nutzen eben. Während diese Zeilen entstehen, poppt bei Facebook eine Meldung aus der ZEIT auf, von vier, fünf, sieben, zwölf, dreizehn Freunden in Windeseile geteilt: Thomas Hitzlsperger hat sich geoutet, vier Monate nach dem Ende seiner aktiven Karriere. Ich habe das ZEIT-Interview noch nicht gelesen, teile die Nachricht aber natürlich auch brav. Weil ich meine Solidarität zeigen möchte, jaja. Und: Weil ich ein paar Leuten in meinem Freundeskreis gerne eine lange Nase mache, denn: Was hab' ich gesagt?! Mal ehrlich: So mutig das Outing ist, so wenig überraschend ist es unterm Strich. Das, was man von Thomas Hitzlsperger so in den letzten Jahren zu hören und zu lesen bekam, hat sich immer allzu sehr von dem entschieden, was die allermeisten Fußballer sonst absondern. Nicht nur quantitativ, im Blick auf die Anzahl der Wörter pro Satz und dergleichen. Sondern auch qualitativ, weil Hitzlsperger immer ein Maß an Nachdenklichkeit an den Tag gelegt hat, über das nicht verfügt, wer nicht einmal einen komplizierteren biografischen Bruch verarbeiten musste. Das hätte natürlich auch eine lange Krankheits- oder Verletzungsgeschichte sein können, in dem Fall war es nunmal die Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Identität in einem oft nicht nur latent homophoben Milieu. Hitzlspergers Entscheidung ist mutig, sie ist gut - sie kostet ihn dabei nicht ganz so viel wie seinerzeit Anton Hysén oder einen anderen Spieler, der auf dem Höhepunkt oder, noch schwieriger, am Anfang seiner Karriere steht. Aber immer noch genug - und ihr Nutzen wird, so Gott will und wir leben, relativ hoch sein, weil aktive Spieler, die vor derselben Entscheidung stehen, die vielen, vielen Solidaritätsbekundungen wahrnehmen: Die Sportschau, die das Interview kurz und knapp mit "Respekt!" verlinkt, die 7.500, denen das gefällt und die die wenigen Irren, die irgendwelche rassistischen oder einfach nur dummen, die Grenzen sind bekanntlich fließend, Sprüche ablassen, in die Schranken weisen. 

Kosten, Nutzen, da waren wir ja. Und bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi, die ich, wie alle Olympischen und sonstigen Winterspiele zuvor, boykottieren werde - nur eben dieses Jahr mit politischer Agenda, die ich auch theologisch begründe - ich könnte ja gar nicht anders: Weil Gott Gott ist, der Schöpfer allen Lebens und Bundespartner des Menschen, gehören menschliche Grundrechte zu den unaufgebbaren Voraussetzungen, die eine Gesellschaft erfüllen oder zumindest tatkräftig erstreben muss, wenn sie sich selbst als human bezeichnen und das ihr aufgetragene dominium terrae treu ausüben will. 

Im mittlerweile letztjährigen "Sommer ohne Loch" war Sotschi schon einmal Thema hier bei den Kirchengeschichten. In der Nachrichtenflaute, in der sich unter die üblichen Meldungen über Lieben und Leiden der C-Prominenz unter anderem auch die Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Russland mischten, fragte ich damals nach der Rolle der Sportbeautftragten der EKD und ihrer Gliedkirchen, die sich nun langsam aufmachen Richtung Sotschi, um den Athlet_innen seelsorglichen Beistand zu leisten. Das an sich ist sicher ein guter und wichtiger Dienst. Aber noch immer wartet man, bislang vergeblich, auf ein kirchenleitendes Wort zur Lage in Russland. Das extra zur Winterolympiade herausgegebene Begleitheft Mittendrin enthält ein paar geistliche Impulse, darunter auch ein paar sehr originelle und gut geschriebene Andachtstexte. 
Was man indes vergebens sucht, sind Stichworte wie "Menschenrechte", "Meinungsfreiheit", "Vielfalt". Offensichtlich will man die Athlet_innen in dieser angespannten Situation damit nicht belasten, was sicherlich gut gemeint, aber ein Irrweg ist: Denn die Kirche suggeriert damit, sie selbst sei unpolitisch - und versucht gleichzeitig, ob gewollt oder nicht gewollt, die Sportlerinnen und Sportler mit auf diese Ebene herunterzuziehen. Schade eigentlich, denn so drängt sich auch die Frage auf, ob das ganze Bohei um das Familienpapier im letzten Jahr doch nur ein Theaterdonner war, wenn es offensichtlich nur darum geht, die eigene Anschlussfähigkeit an den humanwissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahre zur Schau zu stellen, ohne die sich dabei aufdrängenden Konsequenzen für die eigene institutionelle Lebenspraxis zu ziehen. Kostet nicht viel, sowas. Nützt aber auch nichts.