Mittwoch, 14. Mai 2014

Kura skymning - Dämmerung sitzen.

Bild: Thor Thorsson/thort.se


Im Schwedischen gibt es einen Ausdruck, den ich sehr gern mag, der aber schwer zu übersetzen ist. Vielleicht ist es auch bezeichnend, dass das Deutsche kein Wort dafür hat: Kura skymning. Kura heißt eigentlich so etwas wie "kauern", "hocken", skymning heißt Dämmerung. Aber kura skymning ist auch nichts, worüber man groß redet. Man tut es. Ungeplant, immer. Und meistens merkt man erst mittendrin, dass man gerade dabei ist. Kura skymning bedeutet: Man sitzt abends drinnen oder draußen, in Gedanken, ein tiefes Gespräch oder gemeinsames Schweigen versunken, und langsam bricht die Dämmerung ein, und man sitzt einfach da und lässt sich vom Dunkel umgeben. Irgendwann bricht es, irgendwann steht jemand auf und sagt: "Ich mach mal Licht!" Dann ist es vorbei, die fast magische Stimmung verflüchtigt sich, und dann ändert sich auch oft irgendetwas im Gespräch. Und das ist dann gut so. Kura skymning. Ich mag das. Sehr. 

In meiner noch recht kurzen Pfarrerslaufbahn habe ich bislang mehr Frauen als Männer beerdigt, meist ältere Frauen, viele von ihnen hatten einen längeren Krankheitsweg hinter sich, oft irgendwas mit Krebs und/oder Demenz. Viele von ihnen ließen einen Mann zurück, der sich in der letzten Phase ihres Lebens um sie gekümmert hat. Die Pflege von schwerst- oder todkranken Angehörigen ist immer einer der Knochenjobs unter den Liebesdiensten, aber ich glaube, dass diese Zeit gerade diesen angehenden Witwern etwas Besonderes abverlangt, den Männern, die noch mit sehr klaren Rollenverteilungen aufgewachsen sind und plötzlich vor ganz praktischen Aufgaben stehen, mit denen sie vorher nie zu tun gehabt hatten. "Zum Glück", erzählt einer, "kam die Diagnose sehr früh. So konnte meine Frau mir noch das Kochen beibringen, damit ich für sie und dann später auch für mich sorgen kann." Ein anderer erzählt von missglückten Versuchen, mit dem Kärcher die Küche sauber zu machen. Das sind die Momente, in denen man im Trauergespräch anfängt zu lachen, ein kleines Atemholen zwischen all dem Schweren. Mich rührt das sehr, wenn ich diese Geschichten höre.

Bei einigen dieser Gespräche haben wir es getan, ganz ungeplant, es kam einfach dazu. Kurat skymning - Dämmerung gesessen. Wir saßen da und redeten oder schwiegen. Um uns herum wurde es dunkel, aber keiner machte Licht. 

Im Predigerseminar haben wir gelernt, dass man Trauergespräche recht kurz halten sollte. Auch Michael Schibilsky rät in seinem eigentlich immer noch sehr empfehlenswerten Buch Trauerwege, Trauergespräche möglichst nicht in den Abend zu legen, damit sie sich nicht endlos zerdehnen, sondern durch natürliche Zäsuren begrenzt sind. Begründen kann man das unterschiedlich, man kann auf beiden Seiten eine Überforderung befürchten, vielleicht sogar mit Recht. Ich finde solche pauschalen Zeitvorgaben trotzdem schwierig. Klar gibt es Gespräche, die relativ schnell an einem Punkt sind, an dem alles oder eigentlich nichts gesagt ist, und doch nicht mehr gesagt wird. Die muss und sollte man nicht unnötig in die Länge ziehen - vielleicht ist es da die größte Herausforderung an manchen Seelsorger, manche Seelsorgerin, nicht der Versuchung zu unterliegen, einem Gespräch, dass man selbst als unbefriedigend empfindet, doch noch ein paar bewegende Momente abtrotzen zu wollen. Und ohne ein feines Gefühl für das "Genug" geht es in dem Beruf ja ohnehin nicht. Aber genauso wahr ist es ja auch, dass sich Kontakte prozesshaft entwickeln, man in manchen Fällen erst miteinander warm werden muss. 

Und in solchen Trauergesprächen kann das gemeinsame Sitzen in der Dämmerung einen unglaublichen Symbolcharakter haben und die Atmosphäre und den Kontakt nachhaltig verdichten. Ich glaube, dass wir uns in solchen Situationen als Trauerbegleiter_innen bewähren, weil wir mit im Dunkeln sitzen bleiben - und vielleicht sogar darin über uns hinausweisen, indem wir stellvertretend die unausgesprochene Einladung annehmen: "Bleib' bei uns, denn es wird Abend werden, und der Tag hat sich geneigt." Der Satz stammt aus der Emmausgeschichte, die beiden Männer richten diese Einladung an Jesus - ohne zu wissen, wen sie vor sich haben. Ich glaube, dass wir auch in einem solchen Trauergespräch nicht nur zu zweit sind. Und das Bleiben, Wachen und Beten angesichts des Todes ist ja auch sonst ein Auftrag an die Jüngerinnen und Jünger von Jesus gewesen. Irgendwann ist dieser Moment vorbei, dieses ganz kompakte und in der Form nicht planbare Miteinander ist immer zeitlich begrenzt, aber meiner Erfahrung nach können die Gesprächspartner an der Stelle für sich selbst sorgen: Sie stehen irgendwann von alleine auf und machen Licht, irgendwann, wenn es für sie für diesen Abend erstmal gut ist.



(Kleiner kultureller Werbeblock am Ende: Das Lied stammt von Helen Sjöholms Album Visor. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das eins der besten und schönsten Alben ist, die jemals aufgenommen wurden. Echt.)

1 Kommentar:

  1. "Blaue Stunde" könnte man das auf Deutsch vielleicht nennen - jedenfalls das Phänomen ist dasselbe...
    Habe auch schon mal viereinhalbstündige Seelsorgegespräche bis in den Abend geführt mit ähnlichen Gefühlen - danke für´s Auf-den-Punkt-bringen!

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