Sonntag, 11. Mai 2014

Offtopic: Warum Deutschland beim ESC so oft abschmiert und Conchita Wursts Sieg politisch ist

Kleine Kritzelei am Rande

Nein, ich spare sie mir hier und jetzt, die ganzen Rumkalauereien mit "Wurst". Da haben die Leute von Extra3 schon alles nur irgend mögliche aufgelistet. Unterm Strich: The same procedure as last every year. Deutschland ist erwartungsgemäß abgestunken - irgendwie bringen es die meisten Auswahlprogramme der letzten Jahre nicht so wirklich: Die gewollt glamourösen Beiträge (auch, wenn sie dreimal klingen wie ein Aufguss des Vorjahressieges) haben eine Bühnenpräsenz wie die Schaufensterauslage von Strauss Innovation, der Versuch, nach Nicole mal wieder auf grundpatente Schlagersängerinnen zu setzen, geht regelmäßig (etwa mit Bianca Shomburg 1997 oder Corinna May 2002) und kräftig in die Binsen. Pomadenglatte Budenluis und Eintänzertypen (Leon 1996, Roger Cicero 2007 oder Oscar Loya 2009) versprühen statt der gewollten swingig-guten Laune einen Hauch von Kaffeefahrt. Wessen castingshowgepushte five minutes of fame schon im Heimatland seit längerem vorbei ist, der reißt auch im Paradies des Eurotrash nichts (Gracia 2005 oder No Angels 2008). Und auch die vielleicht schon etwas gestandenen, sich bewusst von der ESC-eigenen Kunststoffästhetik abhebenen Vollblutmusiker, die "ganz ehrliche Musik" machen wollen, schaffen es selten übers Mittelfeld hinaus - ein Schicksal, das Lou (Gruseln im Jahr 2003) und Texas Lightning (2006) teilen. 

Vielleicht liegen diese Desaster an der sehr deutschen Einstellung, Charisma und Erfolg seien mit genug Professionalität und behördlich organisiertem Vorgehen plan- und machbar. Im letzten Jahr zum Beispiel war es das Votum der Jury, das die drolligen und publikumsaffinen Lederhosensepperl von LaBrassBanda zugunsten von Cascada aus dem Rennen kickte - und das, obwohl schon die eigene Statistik zeigt, dass sowohl ethno- (Sürpriz 1999) als auch nonsenslastige (Gildo Horn 1998 und Stefan Raab 2000) Beiträge ganz gut laufen. Auch in diesem Jahr gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen den Punkten der Jury und des Publikums. Mich erinnern diese top-down-Prozesse immer ein wenig an die Schröderisierung der Hochschullandschaft im Rahmen der Exzellenzinitiative. Und irgendwie erinnert es mich auch ein bisschen an Kirche der Freiheit. Von wegen behördliche Anordnung von Kreativität und Profilierung, ya know?

Womöglich hängt das auch mit der Zusammensetzung der Jury zusammen; in diesem Jahr waren es Sido, Andreas Bourani, Madeline Juno (ja, ich musste auch erst googeln) und Jennifer Rostock, in den letzten Jahren war das Lineup ganz ähnlich, und man kann sich die Mitglieder der nächsten Jahre, wenn sich nichts ändert, ohne weiteres vorstellen: Adel Tawil, Inga Humpe, Mieze Katz von MIA, Glasperlenspiel, Annett Louisian, Tim Bendzko, einer oder zwei von Culcha Candela oder Revolverheld, Philipp Poisel, Max Prosa und so weiter. Alles sicherlich irgendwie gestandene Musiker_innen mit Ahnung vom Musikkommerz, die bestimmt auch gerne von Goetheinstituten als "witzige, freche, selbstbewusste und unverkrampft deutsche" Protagonisten der hiesigen Musikszene gehypet werden. Ihnen allen ist auch gemeinsam, dass sie recht humorlos und ironiefrei Musik machen. Natürlich wird da mal gelacht, aber, bitte, mit Anspruch. Es fehlt diese diebische Freude am Trash, die für den ESC aber überlebensnotwendig ist. Die allermeisten Jurymitglieder verbindet dementsprechend auch, dass sie sich aus ESC-Zusammenhängen bislang weitestgehend rausgehalten haben und höchstens mal in einem deutschen Vorentscheid mitmachen durften. 

Aber nun. Jetzt hat ja Conchita Wurst für Österreich gewonnen - überraschen dürfte dabei höchstens der deutliche Punkteabstand; sogar ich habe, vielleicht zum zweiten Mal in meinem Leben seit Lena Meyer-Landruth, richtig getippt.

Natürlich ist ein solches Abstimmungsergebnis politisch. Transnationale Musikwettbewerbe sind, genauso wie Olympische Spiele, eine hochpolitische Angelegenheit; in beiden Fällen werden die selbst gesetzten neutral and nonpartisan goals of unity and cooperation through shared [...] culture (so die Grundsatzerklärung der ESC-Verantwortlichen) dadurch konterkatiert, dass die Veranstaltungen als "Mittel national-kultureller Repräsentanz" (Irving Wolther 2006, 1) erkannt und wahrgenommen werden. Auch dann, wenn man sich politischer Kommentare enthält - einen lobenswerten Bruch mit dieser auch von IOC und FIFA bekannten Schweige- und Aussitzungstaktik, die besonders bei den Debatten um die Auftritt von t.A.T.u 2003 einen traurigen Höhepunkt erreichte, verdanken wir Anke Engelke mit ihrem Kommentar zur Lage beim ESC in Bakü 2012, mit dem sie aber leider allein auf weiter Flur blieb. Auch das Wort zum Sonntag, souverän, sympathisch und ungekünstelt vorgetragen von Annette Behnken, blieb da letzten Endes ein wenig zahnlos und ventilierte mehr oder weniger die aus vielen ESC-Beiträgen sattsam bekannten Moralappelle.

Natürlich ist der Sieg von Conchita Wurst politisch, die ganze Figur ist ein einziges politisches Statement. Sie spielt mit Genderstereotypen und bringt stammtischaffine Kommentatoren in Verlegenheit - heißt es jetzt "der, die oder das" Wurst? Harhar. Die Sache dürfte eigentlich klar sein: Die Kunstfigur Conchita Wurst ist phänotypisch eine Frau, trotz der Gesichtsbehaarung, der Künstler Tom Neuwirth ein Mann. In der englischsprachigen Presse wurde Wurst häufig als "bearded lady" bezeichnet - eine Reminiszenz an die freak shows und Kuriositätenschauen des frühen 20. Jahrhunderts, bei denen die bärtige Dame (in der Regel an Hirsutismus leidende Frauen) neben siamesischen Zwillingen und groß- oder kleinwüchsigen Menschen zum Standardfigurenkabinett gehörte. Aus heutiger Sicht sind derartige Zurschaustellungen körperlicher Devianzen natürlich und aus gutem Grund moralisch verfemt - man darf dabei aber nicht vergessen, dass sie bis in die 1920erjahre hinein Menschen, die heute als "Behinderte" oder "Menschen mit besonderen Herausforderungen" auf ihre medizinischen Normabweichungen reduziert werden, nicht nur ein Auskommen, sondern auch eine Möglichkeit zum kreativen Selbstausdruck ermöglichten. Der US-amerikanische Regisseur Tod Browning setzte diesen selbstbewussten freaks (übrigens sprachhistorisch gesehen ein Geusenwort) 1932 ein filmisches Denkmal - sie einfach nur als Opfer gieriger Kunstmanager und voyeuristischer Zuschauer zu sehen, entspricht nach gegenwärtigem Forschungsstand nicht ihrem Selbstverständnis. Mein gestriger Lieblingstweet zum Thema:



Unterm Strich: Der diesjährige ESC hat gezeigt, dass die wirklich politischen Beiträge nicht diejenigen sind, die vom Händereichen und Brückenbauen und Einanderliebhaben singen. Off topic? Nicht ganz. Auch, wenn ich kein Freund davon bin, Personen öffentlichen Lebens ohne deren Zustimmung zu unterstellen, sie würden für etwas einstehen, was die (evangelische) Kirche immer schon gewusst oder getan hat - als Theologe kann ich nicht anders als an eine subversive Stelle Galater 3 denken: Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Das letzte Wort hat deshalb Eva Brunne, Bischöfin in Stockholm: "Ein Sieg für Österreich, und noch viel mehr. Danke Conchita Wurst und allen, die für Freiheit und Vielfalt abgestimmt haben. Es gibt Hoffnung!"



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