Sonntag, 27. Juli 2014

Trauer üben.


NICHT IHR HABT MICH ERWÄHLT, SONDERN ICH HABE EUCH ERWÄHLT (JOH 15,16)



Wir sitzen im Sommerhäuschen in Schweden. Die nächsten Nachbarn, ein paar hundert Meter weg, klopfen an und erzählen von herzzerreißendem Miauen von unter ihrem Haus. Da unten sitzt eine winzig kleine Katze, die die Augen noch nicht lange aufgehabt haben kann. Wir holen sie rein, füttern sie mit ein bisschen verdünnter Milch, lassen sie durchs Haus tapsen und sich vor dem Kamin ein wenig aufwärmen - es ist Anfang September, und in Schweden macht sich in kaltklaren Morgen und kürzeren Abenden der Herbst bemerkbar. Danach bringen wir sie zum Holzschuppen. Das muss ein guter Platz für kleine Katzen sein, die sich oft da aufhalten: Schutz vor Regen und Kälte, enge Spalte im windschiefen Holz, durch die kleine Katzen raus-, aber keine Füchse reinkönnen. Ein paar Handtücher, ein bisschen Milch, das muss reichen. Nach ein paar Stunden gehe ich gucken - das winzige Wesen sitzt immer noch in seinem Stoffnest. Wieder zurück, nestle ich am Gatter - und höre ein leises Miauen. Drehe mich um - zwei Meter hinter mir sitzt die Katze, die ich kurz darauf zum Kater erkläre und Måns nenne. Er ist mir hinterhergelaufen, guckt mich erwartungsvoll an und scheint zu sagen: Hier bin ich. Ich brauche dich. Ich will bei dir sein. Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.


Also kommt er wieder zu uns, erklärt das Erdgeschoss kurzerhand zu seinem Reich und macht sich auf, auch den letzten Winkel zu erkunden. Wir, allesamt erklärte Katzennichtmöger und allerhöchstens Hundemenschen, seufzen, kichern, jaulen vor schierer Verzückung, machen Fotos, streicheln, rennen durcheinander, um ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen, lachen über uns selbst und schütteln den Kopf, wie schnurgerade solche kleinen Wesen den Weg ins Herz finden. Gegen Abend werden wir wieder erwachsen: Måns muss draußen schlafen, muss aus eigener Kraft die Nacht überstehen in seinen Handtüchern zwischen Gummistiefeln und Pilzkörben unter der Bank auf der kleinen Veranda. 

Ich liege abends wach, horche angestrengt in die Dunkelheit und grüble: Mittelfristig muss er alleine klarkommen - aber wer weiß, was jetzt gerade im Moment für ihn das Richtige ist? Wer weiß überhaupt jemals irgendwann, was gerade im Moment das Richtige ist? In meinem Tagebuch notiere ich: Vad behöver han just nu? Är det kroppsvärme, är det mer mjölk, är det sällskap..? Han jamar inte i alla fall, hoppas det är ett bra tecken. Hjärtskärande, det är vad det är! - Was braucht er jetzt gerade? Körperwärme, mehr Milch, einfach Gesellschaft? Herzzerreißend ist das, nichts anderes! Und ich denke an Mikael Wiehes Lied vom kleinen Mädchen mit dem verletzten Vogel im Arm - och hon springer med darrande lockar, hon springer på taniga ben... finns det liv, är det aldrig för sent! -  Gibt es Leben, ist es nie zu spät. Und in mir rast es vor Wut, als ich daran denke: Es Menschenkinder gibt, die verhungern, erfrieren, oder einfach an Einsamkeit sterben. 

SI TU M'APPRIVOISES, NOUS AURONS BESOIN L'UN DE L'AUTRE



Måns übersteht die Nacht, mehr noch: Wir machen ihn in den nächsten Tagen bekannt mit einer Patchworkkatzenfamilie, die ständig vor unserer Küchentür herumlungert - obwohl wir natürlich alle beteuern, uns strengstens an das von Muttern verhängte Katzenfütterverbot zu halten. Wahrscheinlich ist er mit allen über ein paar Ecken verwandt. Da ist eine, die noch Milch hat. Und eine, die etwas älter ist, aber selbst noch ziemlich klein. Måns schläft abends bei ihnen, und tagsüber entdeckt er mit seiner älteren Cousine die Welt: Ahmt ihre Bewegungen nach, läuft ihr hinterher, springt nach einem Tag wie sie vom Treppenabsatz herunter, lernt und wächst mit ihr im Takt. Wenn ich mich auf die Stufe vor der Küchentür setze, klettert Måns mein Hosenbein hoch, legt sich in meine Armbeuge und döst eine halbe Stunde vor sich hin. 


Irgendwann im Laufe der Tage sagt Mamma, nicht ohne Stolz: "Weißt du, ich glaube, wir haben dem richtig das Leben gerettet." Ja, denke ich, und irgendwie gibt man dabei so viel von sich selbst. Und mir kommt eine Passage aus dem kleinen Prinzen in den Sinn: 

"Nein", sagte der kleine Prinz, "ich suche Freunde. Was heißt 'zähmen'?" "Das ist eine in Vergessenheit geratene Sache", sagte der Fuchs. "Es bedeutet, sich 'vertraut machen'." -
"Vertraut machen?" - "Gewiß", sagte der Fuchs. "Noch bist du für mich nichts als ein kleiner junge, der hunderttausend kleinen jungen völlig gleicht. Ich brauche dich nicht, und du brauchst mich ebensowenig. Ich bin für dich nur ein Fuchs, der hunderttausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werden wir einander brauchen. Du wirst für mich einzig sein in der Welt. Ich werde für dich einzig sein in der Welt... 
[...] Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast."


Die Tage gehen, die Abende werden kürzer. Die Kraniche brechen auf, die Wildgänse fliegen in V-förmigen Formationen in den Süden, und das Brennholz im Schuppen ist fast aufgebraucht. Der Sommer geht zu Ende. Der letzte Sauerteig wird verbraucht, die Boote saubergemacht und an Land gezogen, die Motoren bei den Verwandten im Geräteschuppen untergebracht. Bald geht es heimwärts. Das heißt auch: Abschied von Måns, und der Gedanke daran fällt schwer. Ab und zu blitzt die Idee auf: Kann man ihn nicht doch mitnehmen? Nein, kann man nicht!, sagt der Kopf, und hat natürlich recht. Aber!, sagt das Herz, und ich setze mich ein paar Mal mehr auf den Treppenabsatz vor der Küchentür in die Sonne und lasse Måns ein paar Minuten dösen.


WENN ES KEINE TRÄNEN GÄBE, WÜRDEN DIE RIPPEN VERBRENNEN 


Es war an meinem letzten Tag. Morgens durchs Esszimmerfenster die Katzen beim Spielen beobachten, sich für den Abschied am Abend wappnen. Dann: Großeinkauf, all die Dinge, die man in Deutschland nicht kriegt, aber dringend braucht. Mit prallvollen Tüten beladen kommen wir zurück, laufen rein und raus, stellen ab, reißen Türen und Fenster auf, holen noch mehr Tüten aus dem Kofferraum. Plötzlich ein lautes Knarzen, ein dumpfer Schlag. Jemand in der Küche ruft. Auf der Schwelle der Küchentür hockt Måns, schüttelt den Kopf, zuckt hin und her. Die Küchentür. Schwer, fällt von alleine zu, ist deswegen meistens mit einer Schnur an der Hauswand befestigt. Nur heute nicht. Er wollte schnell in die Küche - und war eine halbe Sekunde zu langsam. Einen Augenblick lang sieht es aus, als würde er sich nur den Schreck aus den Gliedern schütteln. Dann sinkt er zur Seite. Aus seinem Hinterteil tropft es. Das kenne ich aus dem Krankenhaus: Kontrollverlust des Schließmuskels. Nie gut. Als klar ist, dass das hier nicht wieder gut wird, setze ich mich auf den Treppenabsatz vor der Küchentür. Måns stirbt auf meinem Arm. 

Ein Satz, der in Schweden manchmal in Todesanzeigen von Kindern steht, taucht auf. Lille Måns, som till oss kom, blott hälsade, och vände om. - Kleiner Måns, der zu uns kam, nur kurz grüßte, und wieder umkehrte. Ja, es ist nicht dasselbe, klar. Ein Kind ist etwas anderes als ein Katzenjunges. Aber - ach Scheiße. Es fühlt sich an, als ob wir einem Vertrauen, das in uns gesetzt, einer Aufgabe, die uns übertragen wurde, nicht gerecht geworden sind. Du bist verantwortlich für das, was du dir vertraut gemacht hast...

Wir begraben ihn unter dem Kirschbaum vor dem Küchenfenster. Heben eine kleine Grube aus, gehen runter zum See, sammeln Steine, damit nicht der erstbeste Fuchs ihn ausgräbt. Als ich ihn in der Hand halte, um ihn in sein Handtuch einzuwickeln, wirkt er ein bisschen größer als sonst. Und das fühlt sich wichtig an, irgendwie bekräftigt der Tod so, dass selbst die paar Wochen ein ganzes, gültiges Leben waren. 

Ein kleiner Teil in mir schaltet um auf "professionell". Der große andere Rest ist wütend und traurig und wütend und traurig. Aber der Pfarrer kann nicht anders, als einen Trauerprozess im Kleinen, wie im Schnelldurchlauf, zu beobachten, und registriert: Es tut gut, das Grab auszuheben, mit Löffeln und Händen, weil der Spaten schon weggepackt ist, einen Teil der Gefühle in physische Arbeit umzuwandeln. Es ist gut, den kleinen Körper zu halten und zu spüren, wie er kälter wird. Das hilft, das Unabänderliche zu begreifen, buchstäblich. Den Körper ablegen, ein letztes Mal wie zur Ruhe betten. Das eigentliche Begraben, das auf unseren Friedhöfen meist pietätsvoll erst dann geschieht, wenn die Angehörigen die Grabstätte verlassen haben, entfaltet seine ganze schmerzhafte Brachialität - av jord är du kommen, jord skall du åter bli. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Aber jede Handvoll Erde ist ein Einverständnis mit dem, ein Annehmen dessen, "was an der menschlichen Existenz im Wesentlichen unannehmbar ist" (Milan Kundera). Aufs Ganze gesehen skandalös, ja. Aber im Einzelfall immer lebensnotwendig. Der Steinhaufen tut mehr, als nur vor Raubtieren zu schützen: Er bleibt als Denkmal für ein Leben, das von außen so unwesentlich, so kurz, so leicht zu übersehen ist, das aber für einige wenige "einzig in der Welt" geworden ist. Als wir fertig sind, legen sich die Katzen um den Steinhaufen und bleiben den ganzen Tag dort liegen. 


(c) Roberto Kemter / pixelio.de

Im Morgengrauen, nach einer durchwachten Nacht, breche ich auf. Ein letzter Gang zum Grab, ein Satz aus der reformierten Grablegungsliturgie streift durch den Nebel: Haben wir ihn geliebt, so wollen wir ihm diese Liebe über den Tod hinaus bewahren. Haben wir einmal zu wenig geliebt, und sind ihm im Leben etwas schuldig geblieben, so bitten wir Gott um Vergebung unserer Schuld. Ich fahre Richtung Westen, an der Küste biege ich nach links. Als ich auf dem Hallandsås bin, geht die Sonne auf. Ein Zwischenstopp in Lund, ein bisschen Zeichenmaterial kaufen. Fahre durch Straßen, auf denen ich während des Studiums unzählige Male unterwegs gewesen bin, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Jetzt mit  dem Auto. Komisch. Siehst du, sagt der Kopf, das Leben geht weiter. Ich weiß, sagt das Herz, aber das dauert, könnten wir mal ...? "Wenn es keine Tränen gäbe, würden die Rippen verbrennen", sagen beide gleichzeitig. Und ich fahre erstmal rechts ran.


3 Kommentare:

  1. Wie traurig. Wie schön. (Muss auch mal eben rechts ranfahren).

    AntwortenLöschen
  2. *schluck*

    Wie wundervoll, niedlich, liebevoll, reizend, herzerwärmend die erste Hälfte. Wie erschütternd die zweite.

    AntwortenLöschen
  3. Ich sitze vor dem Bildschirm und kann die Tränen nicht zurückhalten. Was für ein anrührender Text! Großes Kompliment übrigens für diesen Blog, durch den ich seit über einer Stunde stöber. Weiter so!

    AntwortenLöschen