Donnerstag, 9. Mai 2013

Ich werde zum Verschwörungstheoretiker

In Gedanken hänge ich noch bei der evangelischen Mysterienspie(ge)le(ie)rei (ich bitte um Wahrnehmung dieses hübschen Wortes: "Spiegel-Eierei") im Gottesdienst und kirchlichen Binnengetue, da entdecke ich, unabhängig davon, zwei interessante Wortmeldungen aus der Ecke der Generation Y: Hannes Leitlein beschreibt die nicht zu leugnende und anscheinend zum Gesamtpaket aus Konsensmilch, Batikschals und Baltruweit gehörende Pofeligkeit des Evangelischen Kirchentages, blue eyed believer weist auf die strukturelle Unfreundlichkeit von Gemeinden gegenüber urbanen Singles der oben genannten Generation hin. Beiden kann ich mich aus vollem Herzen anschließen, weil es sich nicht um vages Lamentieren über die Überalterung aller Welt handelt, sondern um schlichte und doch treffende Analysen.

Es ist eine Binsenweisheit, dass bestimmte Altersgruppen in der Kirche, zumal in der Landeskirche, nicht vorkommen. Höchstens aus Versehen. Wenn sie etwa ein Kind haben, das zu taufen ist. Oder wenn sie selbst heiraten wollen. Nur: Das ist nicht automatisch und zwingend die Folge eines ominösen "demografischen Wandels". Das wird behauptet, ja. In versöhnlichen, den traurigen Ist-Zustand theologisch adelnden Kommentaren zu EKD-Mitgliederstudien, die regelmäßig desaströse Ergebnisse zu Tage fördern:
"Drei von vier Konfessionslosen in Westdeutschland waren laut Steinacker evangelisch und traten in den vergangenen 25 Jahren aus der Kirche aus."

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, auch, wenn es bitter schmeckt. Drei von vier konfessionslosen Menschen, und wir können für den Moment davon ausgehen, dass nicht alle Angehörigen dieser Gruppe sich gänzlich willen- und widerstandslos vom Strudel des demografischen Wandels mitreißen lassen. Und also davon, dass der Relevanzverlust der evangelischen Kirche nicht allein mit einer postmodernen Skepsis gegenüber institutionalisierter Religion zu tun hat, sondern erfahrbar ist. 2007 und 2008 wurde eine groß angelegte Studie zur Konfirmandenarbeit durchgeführt. Einige Fragen bezogen sich auf die Wahrnehmung der Gottesdienste, und da haben mich zwei Zahlen besonders fasziniert: Vor der Konfirmandenzeit sagten 51% der befragten Jugendlichen, Gottesdienste seien langweilig. Nach der Konfirmandenzeit waren es 56%. Das erste sind Vorurteile. Das zweite sind Erfahrungen, und von der zunächst klein anmutenden Differenz von 5% sollte man sich nicht täuschen lassen. 

"Ich werde zum Verschwörungstheoretiker", habe ich eingangs geschrieben. Das ist natürlich ein bisschen reißerisch formuliert, aber der Gedanke liegt doch nahe, wenn man unterstellt, dass Gemeinden nachdenken bei dem, was sie tun. Denn dass ein Großteil der Menschen von kirchlichen Angeboten nicht erreicht wird, ist die Konsequenz von Entscheidungen, die getroffen werden. 

Fiktiver Terminplan einer fiktiven Gemeinde. Finde die Fehler.

Um das zu erkennen, muss man sich gar nicht in komplizierte Milieustudien vertiefen, da reicht ein Blick auf die strukturellen Voraussetzungen, die wir für unsere Arbeit schaffen, zum Beispiel auf die Zeiten:

Wer als einziges gottesdienstliches Angebot die traditionelle Veranstaltung irgendwann zwischen 9.45 und 11 Uhr am Sonntagmorgen anbietet, entscheidet sich dafür, einer ganzer Reihe von Menschen eben kein gottesdienstliches Angebot zu machen. Und schließt damit eine ganze Reihe von Menschen aktiv vom gottesdienstlichen Geschehen aus, und zwar all diejenigen, die aus gutem Grund den Sonntagmorgen zum Ausschlafen brauchen: Diejenigen, die samstags feiern gehen. Die DJ's, Kellnerinnen, Go-Go-Tänzer und Klofrauen. Die Ärztinnen und Rettungssanitäter, die Schichtarbeiter, Nachtportiere und Theaterschauspielerinnen. 

Wer das Treffen des Vorbereitungskreises für das Gemeindefest auf einen Vormittag legt, entscheidet sich dafür, gemeinsam mit Rentnern und jungen Müttern eine Veranstaltung für Rentner und Kinder anzubieten.  

Das lässt sich an verschiedenen Beispielen durchexerzieren, in einem Großteil der Rechenbeispiele dürfte deutlich werden: Unsere kirchlichen Angebote richten sich fast ausschließlich an traditionellen Lebensentwürfen aus, die sich im Kleinen irgendwo zwischen dem nine-to-five-Job unter der Woche und dem Braten am Sonntagmittag abspielen und sich im Großen an den Lebensrhythmen der Kernfamilie orientieren, die maximal die Hälfte der Bevölkerung betreffen: Wer mit 34 heiratet und keine Kinder bekommt, die man taufen und konfirmieren kann, kommt vielerorts planmäßig erst 36 oder 46 Jahre später wieder in das Blickfeld der Gemeinde, je nachdem, ab wann man vor Ort mit den Geburtstagsbesuchen anfängt. 

Vielleicht ist das eine Chance: In spätestens zwanzig Jahren ist die Zielgruppe, an die sich knapp die Hälfte der oben skizzierten gemeindlichen Angebote richtet, und die noch mit einer relativ starken kirchlichen Bindung in Kindheitstagen und einem entsprechenden kulturellen Referenzrahmen aufwarten kann, tot. Diejenigen, die in den 2030ern alt sind, werden nicht viele Erinnerungen an Kirche haben, und wer weiß, ob sie uns noch einmal die Chance geben, sie kennen zu lernen. Was werden die Pfarrerinnen und Pfarrer dann Zeit haben!

Eine thematisch irgendwie verwandte Predigt gibt es übrigens hier.

2 Kommentare:

  1. In der Altersphase von 20 bis 50 habe ich mich innerlich auch von der Kirche distanziert.

    Grund und Dreh- und Angelpunkt war die scheinbare Unvereinbarkeit von Glaube und Vernunft. Was da erzählt wurde, konnte so alles nicht stimmen. Sühnetod, Auferstehung von Toten, Jüngster Tag und Weltgericht, Wunder, die hart gegen bewährte naturwissenschaftliche Erkenntnisse verstoßen. Hinzu kamen die Klassiker: Nietzsches Sklavenreligion, das ungelöste Theodizeeproblem. Jeder stirbt für sich allein.

    Meine Propheten waren Wernher von Braun, Steve Jobs und Michail Gorbatschow, die Wunder die Mondlandung und der Fall der Berliner Mauer. Die apokalyptische Drohung der mögliche Atomkrieg.

    Die Kirche habe ich wahrgenommen wie eine liebe alte Tante, die sich nett um die Kinder und die alten Verwandten kümmert, auch eine Tradition würdevoller Zeremonien zu besonderen Anlässen bewahrt. Weil man sie für das alles schätzt, sieht man ihr nach, dass sie keine intellektuelle Leuchte ist und ewig ihre Ammenmärchen erzählt. Aus Höflichkeit spricht man darüber auch nicht viel.

    Mit geänderten Uhrzeiten und anderen Gottesdienstformen hätte mich die Kirche in dieser Zeit nicht erreicht.

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  2. Nach den Erfahrungen in Holland würde ich, ein paar Monate später, auch die Bedeutung der Gottesdienstzeiten noch einmal in Frage stellen...
    Aber was mich interessiert: Welche Bilder gibt es jenseits der liebevollen Tante?

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