Mittwoch, 8. Mai 2013

Mysteriös...

In meiner Familie wird, wann immer das Gespräch auf meinen Beruf kommt, eine Anekdote erzählt, über deren Wahrheitsgehalt ich nichts sagen kann, obwohl ich dabei gewesen sein muss, wenn sie denn wahr ist. Aber wahr müssen Dinge bekanntlich sein, sonst könnte man sie nicht erzählen, oder so ähnlich, jedenfalls:

Ich muss etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, da kamen meine Eltern, die mit Kirche abseits der großen biografischen Anlässe nicht viel zu tun hatten und auch heute noch vor allem dann in die Kirche gehen, wenn der Sohn auf der Kanzel steht, auf die Idee, dass der Protestantismus doch ein wichtiges Kulturgut sei und ihr Kind das doch auch kennen lernen müsse. Und so ging es sonntags in die Kirche. Daran kann ich mich tatsächlich erinnern, auch, dass ich diese Idee nicht besonders toll fand: Statt eines gemütlich-verpennten Sonntagmorgens mit langem Frühstück und David de Kabouter (aus mir unerklärlichen Gründen konnten wir damals sonntagsmorgens, und auch nur dann, kein RTL, sondern nur niederländisches Fernsehen empfangen) ging es in aller Hergottsfrühe also in die Kirche. Ich weiß noch: Die Bänke waren hart, die Menschen alt und trugen schwarz, und es war furchtbar langweilig! Ich fühlte mich fremd. Daran erinnere ich mich recht gut, im Gegensatz zum Ende der Geschichte: Nach überstandenem Gottesdienst sollen meine Eltern mich gefragt haben: "Und, wie fandest du es in der Kirche?", und ich soll die Hände in die Seiten gestemmt und mit aller Autorität und allem Trotz, den ein Sechsjähriger aufbringen kann, erklärt haben: "So einen Blödsinn machen wir nicht noch einmal!"

(c) Andreas Morlok/pixelio.de
Meinem religiösen Werdegang hat das offensichtlich nicht geschadet, immerhin mache ich "so einen Blödsinn" mehrmals im Monat selber, aber das Gefühl des Fremdseins im Gottesdienst ist in meiner Erinnerung lebendig geblieben. Auch, weil es sich während meiner Konfirmandenzeit fortgesetzt hat: Auch da saß ich auf unbequemen Bänken, es wurden Lieder gesungen, deren Texte ich nicht verstand (bei einigen Liedern aus dem Gesangbuch habe ich heute noch späte "Aha!"-Erlebnisse) und deren musikalische Formensprache meinen alltäglichen Hörgewohnheiten so fern waren wie nur irgendetwas. Als besonders bedrückend empfand ich die Stellen in den Gottesdiensten, an denen die alten Leute um mich herum wie auf ein geheimes Kommando hin aufsprangen und Liedzeilen sangen und Texte aufsagten, die ich weder verstand noch irgendwo abgedruckt fand. Ich sprang immer etwas verspätet mit auf und setzte mich auch immer etwas verspätet wieder hin und hoffte, dass in der Zwischenzeit keiner merken würde, dass ich nicht auch nur den leisesten Schimmer davon hatte, was da gerade ablief. 

Mittlerweile bin ich "reingewachsen", habe den gottesdienstlichen Standardablauf mit den üblichsten Varianten verinnerlicht und denke mir nichts mehr dabei, wenn aus dramaturgisch eigentlich nicht nachvollziehbaren Gründen die Gemeinde auf ein gesprochenes Signal hin singend antwortet. Ich kann einige Texte auswendig, vor allem aus der Lutherbibel, weil die so schön nach Kirche klingt. Von Bonhoeffer und aktuellen Überlegungen aus der praktischen Theologie habe ich gelernt, dass es so etwas wie ein Arkanprinzip gibt, dass die exklusive Binnensprache und die in evangelischen Gottesdiensten traditionell karge, von Uneingeweihten und auch von manchem regelmäßigen Kirchgänger trotzdem kaum durchschaubare Symbolik nicht etwa mit mangelnder pädagogischer Bereitschaft, sondern vielmehr mit dem (wer laut liest, kann jetzt die Stimme ein bisschen ehrfurchtsvoll erzittern lassen) Mysterium des christlichen Gottesdienstes zu tun hat. Ich frage mich allerdings, warum wir dann nicht den ganzen Gottesdienst auf Hebräisch oder Altgriechisch feiern, oder warum wir uns nicht, wie die Orthodoxen, bei den entscheidenden Momenten hinter Bilderwänden verstecken - das würde den mysteriösen Charakter nochmal heben. 

(c) Dieter Schütz / pixelio.de
Und mehr noch, und durchaus ernst gemeint: Ich habe erlebt, wie gruselig Gottesdienste mit anbiedernder "Moderation" sein können, ich finde Paul Gerhardt gehaltvoller als Peter Janssens, und der aaronitische Segen in der Lutherübersetzung ist mir lieber als irgendein irisches Gedicht, in dem es um Wind und Blumen und Gras geht, das mir Pollen in den Rücken schleudert. Oder so. Seit ich in irgendeinem Festgottesdienst "Lobet den Herren" mit Klavier- und Schlagzeugbegleitung gehört habe und dachte, ich säße im ZDF-Fernsehgarten, schätze ich auch die Orgel zunehmend. Der Feuilleton und diverse Mitgliederbefragungen haben mich gelehrt, dass der Gottesdienst ein ästhetisches Erlebnis ist, und dass deswegen die Weihnachtsgeschichte immer in einer älteren Übersetzung gelesen werden muss, weil Menschen auch mal eine Pause vom Alltag brauchen und ein Recht darauf haben, an Heiligabend von sozialen und politischen Fragen verschont zu bleiben und in Nostalgie zu schwelgen. 

Und trotzdem. Als ich an Ostern zum ersten Mal vom Auferstandenen statt vom Auferstandenen sprach, sah ich für einen kurzen Moment mich selbst als Zwölfjährigen in der Bank. Ich saß da, guckte streng Richtung Kanzel, tippte mir an die Stirn und machte lautlos, aber überdeutlich: "Hä?!"

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