Samstag, 20. April 2013

Als unser Chinese die Speisekarten abschaffte

- "Ich liebe die italienische Küche. Ossobuco ist mein absolutes Leibgericht!"
- "Für mich muss es französisch sein. Für so ein richtig gut gemachtes Coq au vin, da lasse ich alles andere stehen!"
- "Also ich esse ja sehr gern chinesisch. Am liebsten die M34."

Wer bei vorangestelltem Witzchen zumindest ganz leise "höhö" machen musste, kann ja nicht mehr ganz so jung sein. Denn: Wann habt Ihr das letzte Mal "beim Chinesen" eine Speisekarte in die Hand genommen? (Das richtige Hintergrundflair für den folgenden Beitrag gibt es übrigens hier oder hier!)

(c) R. B. / pixelio.de
Früher, jaahaa, da war das noch was anderes. In meiner Kindheit ging es, wann immer ein Anlass gefunden war, der aushäusiges Feiern rechtfertigte, "zum Chinesen", und zwar immer zu demselben. Das Lokal hieß wahrscheinlich "Chinesische Mauer" oder "Mandarin", allerhöchstens noch... nein, es war wohl die "Chinesische Mauer". Kaum durch die Tür, tauchte unsere in höchstem Grad mittel- und nordeuropäische Gesellschaft ein in eine fremde, exotisch anmutende Welt: Dunkle Auslegeware schluckte jedweden Trittschall, gefälliges Plingpling aus Klavieren an Streichersauce umschmeichelte die Ohren, dicke Goldfische mit Flossen wie Brautschleier schwebten durch ihre Aquarien, bestaunten die riesigen Panoramabilder mit blassbraunen Bergen und dem Namen gebenden Bauwerk im Morgennebel und träumten von der Heimat. Nicht minder dicke Buddhas aus (hey, ich war sechs) wahrscheinlich purem Gold mit breitem Lächeln auf dem zahnlosen Mund hießen uns Fremde willkommen, ihr prächtiger Bauch und die entspannte Körperhaltung riefen uns zu: "Hiel könnt ihl satt welden und flöhlich sein!" 

Von Glutamat hatte Ottonormalverbraucher noch nie etwas gehört. Filzhaarige Asienbackpacker in Batikshirts, die einen solchen Abend mit ungebetenen Vorträgen über ihre als charakterstärkende Individualreisen getarnten Hamstertouren und über echte chinesische Esskultur entzauberten, kannte man nur von Weitem. Und so brütete man, von derlei Gedanken unbeschwert, über den Speisekarten, nippte an dem giftgrünen Begrüßungscocktail und versuchte sich auszumalen, auf welche geschmacklichen Fernreisen man bei Gerichten mit so klangvollen Beschreibungen wie "Ente kantonesische Stil Glasnudeln und sieben Gemuse - vorsichtig sehr scharf" hoffen durfte. Ich bestellte allerdings nie die M34, bei mir musste es immer T87 sein.

Wo will ich eigentlich hin mit dem Ganzen? Ach ja. Irgendwann hörte ich auf, die T87 zu bestellen, weil unser Stammchinese sonntags das Mittagsbuffet einführte. Dem folgte das "große Spezialitätenbuffet an Sonn- und Feiertagen", das es dann in verschlankter Variante jeden Tag gab. Und irgendwann im Lauf der letzten zehn Jahre müssen so ziemlich alle Chinarestaurants der westlichen Welt nachgezogen haben.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal überhaupt eine Speisekarte in den Händen hatte, eben, weil es immer Buffet gibt, meistens noch unter der verheißungsvollen Überschrift All you can eat. Dass das vor allem bei deutscher Kundschaft zieht, dürfte wenig überraschen, bemisst sich doch hierzulande das Preis-Leistungs-Verhältnis einer Mahlzeit vor allem an ihrer Größe - wie sonst ist der Erfolg einschlägiger Webportale erklärbar wie etwa XXL-essen.de, dessen Betreiber sich der hehren Aufgabe gewidmet haben, solche Restaurants aufzulisten, die es dem anscheinend ständig darbenden und sich in Entbehrung verzehrenden Gast ermöglichen, endlich "satt zu werden. Und das nicht mit Beilagen, sondern hochwertigen [sic!] Mega-Portionen an Schnitzeln, Burgern, Currywurst & Co." Die Chinarestaurants folgen damit in schlichter Konsequenz dem Flatrate-Trend der letzten Jahre. Geiz ist bekanntlich geil, beim Telefonieren, Saufen und Frauenausbeuten - und beim Essen dann erst recht.

Auch aus Sicht der Gastronomen hat so ein Büffet unleugbare Vorteile, denn Einkauf und Zubereitung lassen sich besser planen: Spätestens nach einem Monat weiß man halt, dass man von den Bambus- und Mungbohnensprossen weniger einkaufen muss, dafür mehr Hummerkrabben, die der preisbewusste Deutsche sich gleich kellenweise auf den Teller häuft.

Natürlich hat dieser Siegeszug des Mittagsbuffets noch mehr Väter und Mütter, denn er hat viel mit dem Lebensgefühl einer ganzen Generation zu tun. Peter Gross hat dafür das Stichwort Multioptionsgesellschaft geprägt: Das Leben als ein einziges, großes All-you-can-eat-Buffet, die Chance, zu jeder Zeit genau das auszusuchen, nach dem mir der Sinn steht - und damit aber auch die andauernde Qual der Wahl. Ich will gar nicht über die modernen Zeiten lamentieren. Ich bin genauso froh, durch Geburt und Herkunftsmilieu nicht auf irgendeinen Lebensentwurf festgelegt zu sein, wie ich gern die Möglichkeit nutze, mir beim Chinesen, je nach Stimmung, mehr Fleisch oder mehr Gemüse auf den Teller zu laden und bestimmte Dinge erst einmal zu probieren. Dummer Weise ist diese Freiheit auch mit Stress verbunden, denn ich bin gezwungen, ständig zu überprüfen, ob das Gewählte noch meiner akuten Laune entspricht und meiner unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dient -  kein Wunder also, dass Entscheidungen, die einen auf eine gefühlte Ewigkeit festlegen, schwer fallen und fast antik anmuten. 

Allerdings - in der Gastronomie wird besonders deutlich, dass das Label "All you can eat" dann doch eher metaphorisch als realistisch gemeint ist, wie die Betreiber eines anonymen Chinarestaurants in den USA ihren Gästen auf äußerst charmante Weise klar machen:    

gefunden bei themetapicture.com

Was denkt Ihr? Wo liegen die Grenzen der Multioptionsgesellschaft? An welchen Stellen im Leben sind definitive Entscheidungen notwendig - und wie entgehen wir der Gefahr, die Selbstfestlegung zu verlernen, wenn wir nicht einmal mehr ein Essen im Restaurant bestellen? Und, es geht ja um Kirchengeschichten - wie können wir plausibel machen, dass bei aller postmodernen Flickschusterei der christliche Glaube auch eine Entscheidung kennt und vielleicht sogar braucht?

Donnerstag, 18. April 2013

Die Frau mit der roten Nase

Direkt vorneweg und ungeschützt gesagt: Ich mag Clowns nicht wirklich. Zirkusmanegenslapstick ist nicht mein Humor, und die schwarz-weiß-melancholische Variante des Pierrot ist mir in seinem zur Schau gestellten Weltschmerz irgendwie zu  pathetisch. Mit einigem Staunen höre ich deswegen die Berichte über Krankenhausclowns. Ganz ehrlich: Wenn ich als Kind im Krankenhaus gelegen hätte und ein Clown wäre zur Tür herein gekommen - ich hätte, wie in der biblischen Geschichte, mein Bett genommen und wäre, nicht mehr ganz so wie in der biblischen Geschichte, laut kreischend rausgelaufen. Die Krankenschwestern hätten mir nachgeguckt und in Worten Johannes Mario Simmels leise gemurmelt: "Mit den Clowns kamen die Tränen!" Stephen King und Tim Curry ("Es") haben die Sache natürlich nicht besser gemacht.
  
Foto: Andreas Musolt / pixelio.de
Ich bin damit übrigens alles andere als allein - die Leiterin einer Studie der Universität Sheffield aus dem Jahr 2008 kommt zu dem viele Leute offensichtlich dann doch überraschenden Schluss: "We found that clowns are universally disliked by children." Sag ich ja! Dazu ist einschränkend zu sagen, dass sich die Studie meines Wissens auf Bilder von Clowns bezieht, die an den Wänden der Kinderstation hängen - und meistens stereotype Zirkusclowns mit kompletter Gesichtsbemalung zeigen. Diese wiederum kommt einer Totalmaskierung sehr nahe, und die wirkt auf viele Menschen bedrohlich. Soweit ich weiß, benutzen Krankenhausclowns aus diesen oder ähnlichen Gründen in der Regel wenig Schminke und allenfalls eine rote Nase.

Für ein Gespräch mit einem Clown, genauer gesagt einer Clownin, bin ich allerdings äußerst dankbar. Es ist schon einige Jahre her, ich war als Referent auf eine Tagung mit dem Thema "Religion und Humor" eingeladen und sollte etwas über den jüdischen Humor erzählen. Mit besagter Clownin ergab sich eine Gesprächsmöglichkeit kurz vor dem Mittagessen, und da auch sie nur eine rote Nase trug und ansonsten in Zivil unterwegs war, konnte ich meine coulrophoben (ha!) Impulse im Zaum halten und ihr, im Laufe des Gesprächs immer gebannter, zuhören. Dass sie von Hause aus Psychologin und Psychotherapeutin war, hat sicherlich auch seinen Teil dazu beigetragen, denn diesen Menschen traue ich doch eine Menge zu. Sie arbeitete schwerpunktmäßig mit Senioren und erzählte von einer besonderen Begebenheit mit einem demenziell veränderten Patienten:

"Weißt du", erzählte sie, "Demenzkranke erleben eigentlich den ganzen Tag, dass andere ihnen ihre Wirklichkeit ausreden wollen. Ihre Wahrnehmungen werden pauschal als 'falsch' bezeichnet, und Angehörige und zum Teil auch Pflegende schwingen sich zu Anwälten einer vermeintlich vernünftigen Konsensrealität auf. Ich muss das nicht, ich kann mich auf ihre Gedanken einlassen, sie in ihrer Welt besuchen und mit ihnen da eine gute Zeit haben.

Neulich war ich zu Besuch bei einem alten Mann im Zimmer, der felsenfest darauf beharrte, im Park zu stehen. Alle wollten, aber niemand konnte ihn davon überzeugen, dass er eigentlich vor seinem Bett im Altenheim stand. Ich habe mich dann bei ihm untergehakt, gesagt: 'Wir gehen jetzt mal spazieren', und dann sind wir ein paar Runden durchs Zimmer gegangen, und er hat mir erzählt, was er sah. Mal standen wir am Teich und haben Enten beobachtet, mal an den Blumen in den Beeten gerochen. Zwischendurch war Kaffeezeit, die Pflegerin kam mit Kuchen ins Zimmer, und dann haben wir uns eben in ein Café gesetzt und dort Kuchen gegessen. Nach noch ein paar Runden im Zimmer setzte er sich schließlich auf sein Bett, pustete einmal kräftig aus und sagte dann mit einem zufriedenen Lächeln: 'Das war ein schöner Tag.'"

Weiß geschminkte und durch die Manege purzelnde Clowns finde ich immer noch eher verstörend als witzig. Aber in dieser halben Stunde habe ich von der klugen Frau mit der rosen Nase manches über den Umgang mit Demenzkranken (und eigentlich mit Menschen generell) gelernt, von dem ich erst später erfahren habe, dass es unter dem Label Integrative Validation ein durchaus anerkanntes Pflegemodell ist.

Dienstag, 16. April 2013

Her Majesty is quite amusing

Man nennt sie die "Königin der Instrumente", und das Bild stimmt wahrscheinlich auf mehr als einer Ebene: In jedem Raum, in dem sie sich befindet, zieht sie die Blicke auf sich und dominiert das Geschehen. Sie verlangt, ganz divenhaft, wohltemperierte Räume. Für viele gehört sie einfach dazu. Manche wissen nicht richtig, wofür sie gut ist, möchten aber trotzdem nicht auf sie verzichten, und wer keine hat, wünscht sich manchmal eine. Andere halten sie für ein sperriges und viel zu teures Relikt aus vergangenen Zeiten, im besten Fall ein Zugeständnis an das Folklorebedürfnis breiter Teile der Bevölkerung, im schlimmsten Fall eine Altlast, die neuen Entwicklungen und notwendigen Modernisierungen im Weg steht: Die Orgel. 

Damit ist der Vergleich aber auch zu Ende, denn die Orgel kann, unter fachkundigen Händen und Füßen, etwas, was ihren Namensvetterinnen (oder heißt es -basen?) vom höfischen Protokoll verwehrt wird: Richtig und im besten Sinne das Haus rocken. Viel Spaß!

Ab auf die hohe See!




Ein Orgelarrangement, das noch näher an der ursprünglichen Filmmusik entlang spielt, lässt sich leider nicht einbetten, ist aber hier zu finden.

Bis zur Unendlichkeit, und noch viel weiter... oder so...

 


Ab in die Charts...

 


... und zurück in die Achtziger...

 


(Das Projekt "Orgel rockt" widmet sich übrigens dem Erhalt alter Kirchenorgeln.)

... und in die Siebziger...

 



... und wer noch mehr hören will, ...

 

... geht einfach am Sonntag in die nächste Kirche.

Sonntag, 14. April 2013

Männergespräch - Predigt über Joh 21,15-19



Liebe Gemeinde,


(c) Dieter Kreikemeier / pixelio.de
Morgennebel liegen noch über dem See. Am Ufer schwelt im taufeuchten Sand ein Kohlenfeuer vor sich hin, drum herum Fischgräten, Brotstücke, Reste eines Essens mit Freunden. Dort am Ufer sitzen auch zwei Männer und unterhalten sich, ein Männergespräch eben. Das Gespräch ist kein einfaches, es geht um Gefühle, und da unterstellen ja manche, dass Männern das Sprechen darüber sowieso nicht so leicht fällt. 
Das Gespräch ist anstrengend, weil die beiden Männer eine bewegte Vergangenheit haben. Nehmen wir auf einem Stein in der Nähe Platz und hören wir ihnen erst einfach mal zu.


Als sie nun gegessen haben, spricht Jesus zu Simon Petrus: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als diese mich lieben? Er sagt zu ihm: Ja, Herr, du weisst, dass ich dich lieb habe. Er sagt zu ihm: Weide meine Lämmer! Und er sagt ein zweites Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Der sagt zu ihm: Ja, Herr, du weisst, dass ich dich lieb habe. Er sagt zu ihm: Hüte meine Schafe! Er sagt zum dritten Mal zu ihm: Simon, Sohn des Johannes, hast du mich lieb? Petrus wurde traurig, weil er zum dritten Mal zu ihm sagte: Hast du mich lieb?, und er sagt zu ihm: Herr, du weisst alles, du siehst doch, dass ich dich lieb habe. Jesus sagt zu ihm: Weide meine Schafe! Amen, amen, ich sage dir: Als du jünger warst, hast du dich selber gegürtet und bist gegangen, wohin du wolltest. Wenn du aber älter wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst. […] Und nachdem er dies gesagt hatte, sagte er zu ihm: Folge mir!



Liebe Gemeinde, da sitzen sie also am Ufer des Sees, nach dem Essen, Jesus und Petrus. Beide haben eine bewegte Vergangenheit miteinander, eine Geschichte voller großer Abenteuer, aber auch voll enttäuschter Erwartungen und nicht eingelöster Versprechen, die in diesem Gespräch zwischen ihnen liegen wie das schwelende Kohlenfeuer. Petrus dürfte ziemlich unbequem auf seinem Stein sitzen, mit den Erinnerungsfetzen der letzten Zeit, die wie die Schwaden des Morgennebels an seinem inneren Auge vorbeiziehen: 

Chaos im Garten am Bach Kidron, das Gebrüll der Soldaten, er selbst, wie er sein Schwert zieht und Jesus verteidigen will – und der ihn vor den anderen in die Schranken weist… 
Die neugierigen und bohrenden Blicke der Leute vor dem Palast, die ausgestreckten Zeigefinger, die schrillen Rufe: Du gehörst doch auch zu diesem Jesus… 
Er fühlt fast körperlich noch einmal, wie er einknickt, hört sich selbst noch einmal die Worte sagen, deren Echo seit Tagen in seinem Kopf dröhnt: „Ich kenne den Menschen nicht!“… 
sieht sich selbst in sicherer Entfernung von der Hinrichtungsstätte Golgatha stehen, sieht Jesus sterben, sieht, wie andere bei ihm sind und ihn im Sterben und im Tod begleiten... 
Fühlt noch einmal die Enge in der Brust, den konturlosen Schmerz, die Wut, das Chaos der letzten Tage, das auch noch nicht ganz weg ist, die Einsicht: Er ist wieder da, die noch nicht ganz bis ins Herz vorgedrungen ist.

Als sie gegessen haben, spricht Jesus zu Simon Petrus… Und so muss es ja eigentlich sein: Wenn es weitergehen will, wenn man miteinander weitergehen will, muss man miteinander über das, was passiert ist, reden. Auch, und gerade dann, wenn es schwer fällt, wenn Schuld, Enttäuschung und Versäumnisse im Raum stehen. Ich kann mir vorstellen, dass Petrus ziemlich mulmig zu Mute ist, als Jesus ihm signalisiert: Wir müssen reden.

Und der Gesprächseinstieg ist alles andere als einfach:
Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr, als diese mich lieben?
Wahrscheinlich klingt diese Frage in Petrus Ohren wie ein Anklageplädoyer: „Simon, Sohn des Johannes“, das ist distanzierte Behördensprache, das ist nicht der Spitzname, mit dem ihn sonst Jesus anspricht, den kein anderer als er benutzen darf. Und dann diese Frage erst – „liebst du mich mehr als die anderen da?“

Liebe Gemeinde, vielleicht ist jemand von Ihnen schon einmal diese Frage gestellt worden – dann wissen Sie, wie schwer es ist, darauf zu antworten: Sagt man ‚ja‘, dann bleibt, auch, wenn man es ehrlich meint und fühlt, ein schales Gefühl zurück, die Unsicherheit, warum der Andere diese Frage braucht. Auf der anderen Seite: Petrus wird sich denken können, warum Jesus ihm diese Frage stellt, und auch, warum er ihn mit den anderen vergleicht. Das hat Petrus selbst oft genug getan, noch der Weg zum leeren Grab ist ein Wettlauf gewesen, wer als Erster da ist. Vielleicht braucht gar nicht Jesus diese Frage, sondern Petrus, und Petrus antwortet ziemlich kleinlaut: Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.

Wenn Sie selbst einmal einem Menschen diese Frage gestellt haben – liebst du mich? -, dann wissen Sie auch: Das ist eine blöde Antwort. „Das weißt du doch“, das ist nicht das, was man hören will, denn die Frage stellt sich ja in erster Linie dann, weil man es eben nicht richtig weiß, weil man hören muss. Liebst du mich?, fragt Jesus, und Petrus sagt: Ja, du weißt, dass ich dich lieb habe. Das klingt ein bisschen nach so einem typischen Satz eines Mannes, dem es schwer fällt, über seine Gefühle zu reden. Vielleicht ist Petrus das Wort „Lieben“ zu groß nach all dem, was in diesen letzten Tagen zwischen ihnen vorgefallen ist. Vielleicht schwächt er auch ab, weil er zeigt, dass er die Spitze der Frage verstanden hat: Liebst du mich mehr, als diese mich lieben? Wie die anderen zu Jesus stehen, das geht Petrus nichts an, das scheint ihm klar geworden zu sein. Und so ist er mit dieser Antwort ganz bei sich, ohne auf den Glauben der anderen zu schielen. 

Jesus antwortet: Weide meine Lämmer, also: Pass auf die auf, die mir anvertraut sind. Offensichtlich, und das beeindruckt mich an diesem Wortwechsel: Jesus reicht das, dieses abgeschwächte, brüchige, kleinlaute Bekenntnis, das den Vergleich mit anderen scheut. Das reicht ihm, um mit Petrus weiterzumachen. Das genügt als Basis, um bei der Sache Jesu dabei zu bleiben.

Aber er fragt noch einmal, diesmal ohne den Blick auf die anderen, der Wortwechsel wiederholt sich in leichter Variation:

Liebst du mich?
Ja, Herr, du weißt, dass ich dich lieb habe.
Hüte meine Schafe.

Und Jesus fragt ein drittes Mal, und Petrus wird traurig – verständlich, irgendwie. Denn wenn die Frage schon eine Zumutung war, dann ist es die zweite und dritte Wiederholung erst recht. Und die Erinnerungen kommen zurück und das, was zwischen beiden geschehen ist, was er getan und gelassen hat, scheint stärker und entscheidender als alles, was er am Seeufer sagen kann, und so kann man sich vorstellen, wie frustriert Petrus klingt: Herr, du weisst alles, du siehst doch, dass ich dich lieb habe.
Aber eins überhört Petrus an dieser dritten Frage: Jesus wiederholt sich nicht ein drittes Mal, sondern er fragt: Hast du mich lieb?
Jesus lässt sich auf Petrus Formulierung ein, er übernimmt sie – Jesus lässt Petrus ihrer Beziehung den Namen geben und ihre Intensität definieren. Er lässt sich auf Petrus ein, seine Entgegnung bleibt dieselbe: Weide meine Schafe.

Vielleicht wirft Petrus jetzt einen Blick in die Runde der Jünger, vielleicht denkt er an die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegnet sind. Auf jeden Fall: Der Blick weitet sich, an den Rändern tauchen wieder andere Menschen auf. Es geht um sie beide, da am Ufer des Sees, aber es geht eben um noch viel mehr: Wer sich auf die Beziehung zu Jesus einlässt, der bleibt nicht mit ihm allein. Da gibt es Momente der Zweisamkeit und der Intimität, in der sich über das reden lässt, was schwer ist. Aber mit Jesus hat man immer eine offene Beziehung, in der andere Platz haben, und das Verhältnis, das man mit Jesus hat, hat Folgen. Auch dann, wenn man selbst eher kleinlaut und leise wird und seine eigenen Grenzen nur zu gut kennt. Jesus reicht das. Weide meine Schafe, pass auf die auf, die dir anvertraut sind, auf die Menschen, die ich dir an die Seite stelle. 

Die beiden reden noch eine Weile miteinander, im Laufe dieses Gesprächs wird klar, dass der Weg, den Petrus gehen soll, kein leichter ist und ihn womöglich das Leben kosten wird, dass ihn jemand dorthin führen wird, wohin er nicht will, wie ein Schäfer oder ein Hirte, der auf der Suche nach einem verlorenen Schaf selbst über gefährliche Abgründe klettern muss. Dann gehen sie zurück zu den anderen.

Stellen Sie sich noch vor, es gibt einen Moment, als sie beide aufbrechen, an dem wir Blickkontakt mit Jesus bekommen. In diesem kurzen Blickwechsel liegt alles, was wichtig ist: Lass uns reden. Über das, was bisher zwischen uns gewesen ist, über die Geschichte, die wir miteinander haben. Und in dem Blick liegt die Frage: Liebst du mich? Glaubst du mir, vertraust Du mir? Vielleicht können einige aus vollem Herzen sagen: Ja, klar! Vielleicht können einige nicht mehr, als trocken und kleinlaut sagen: Weißt du doch… Ja, irgendwie schon… Beides reicht. Und gucken Sie sich jetzt mal um, in der Kirche, oder lassen Sie vor Ihrem inneren Auge die Menschen vorbeiziehen, die Ihnen in den letzten Tagen begegnet sind oder auf die sie in der nächsten Zeit treffen werden.

Und hören Sie ihn noch einmal: Weide meine Schafe.

 Amen.

Donnerstag, 11. April 2013

"..., bis dass der Tod euch scheidet" - Liebe lebenslänglich?

Es gibt so einen Punkt in vielen Traugesprächen, da stockt es ein für einen Moment. Ein nervöser Blick, der zwischen beiden hin und her flackert. Ein leises Räuspern, ein schnelles  Sich-zurecht-Rücken auf dem Stuhl, der plötzlich unbequemer scheint als vorher. Nur ein Moment, aber ein klares Signal: Wir müssen reden. Es wird ernst. 

Der Punkt kommt relativ spät im Kontakt zwischen Pfarrerin oder Pfarrer und den beiden, die mit ihrer Beziehung einen Schritt weiter gehen wollen. Wenn es bislang gut gelaufen ist, hat man sich gegenseitig beschnuppert und sympathisch gefunden, vertrauenswürdig und interessant. Die beiden haben ihre Geschichten erzählt, man ist gemeinsam unterwegs gewesen, um sich jetzt den praktischen Dingen zuzuwenden, die es miteinander zu besprechen gibt. Gottesdienstablauf soweit klar - Einzug, Lied, sitzen, stehen, nicht so viel fotografieren und lieber gucken, Lesungen, Ansprache, zwischendurch ein paar Lieder - ach, Schwester singt? Super, geht auch - und dann die Traufrage. Meiner Erfahrung nach sind die meisten Paare ungemein erleichtert, wenn sie hören, dass sie ihre Liebesschwüre und Treueversprechen nicht (wie so oft gesehen und total schön, aber auch ein bisschen beängstigend gefunden) selbst vorlesen, geschweige denn selbst verfassen müssen. Ein "Ja, mit Gottes Hilfe" tut es auch, und wem das partout nicht über die Lippen kommen will, kann es bei einem einfachen "Ja" belassen. Da sollte man entspannt sein - auf Gottes Hilfe kommt es sowieso an, ob wir das jetzt noch extra dazu sagen oder nicht.
Kleiner Einschub zum Thema "Trauversprechen", die als marriage vows in englischsprachigen Ländern weitaus verbreiteter sind als bei uns: Ein selbst formuliertes Eheversprechen kann diesem atmosphärisch ohnehin schon dichten Moment eine sehr persönliche Note geben und verdeutlicht, dass sich hier zwei erwachsene Menschen aus freien Stücken auf einen gemeinsamen Weg machen; Anregungen und Formulierungshilfen gibt es zuhauf im Internet (auf Englisch noch weitaus mehr). Allerdings sollten sich beide wirklich einig sein, dass sie das wollen - das Sprechen vor so vielen Leuten ist ohnehin nicht jedermans (und jeder Frau) Sache, und die Gespanntheit des Augenblicks macht es noch ein bisschen aufregender, selbst, wenn hier wie in jedem anderen Gottesdienst auch gilt: Es wird nicht falsch, es wird halt nur anders. Wer den eigenen Formulierungskünsten nicht traut oder keine passenden Vorlagen findet, auf ein längeres Trauversprechen jedoch nicht verzichten will, kann einen Mittelweg beschreiten: In den einschlägigen Agenden (also den Gottesdienstabläufen) gibt es Beispieltexte, die der Pfarrer oder die Pfarrerin auch Satz für Satz vorsagen kann. Nochmal: Hier, wie sowieso ja immer, sollte man offen über die eigenen Wünsche und Befürchtungen reden.
Hier liegt der Punkt, an dem es manchmal ungemütlich wird: In den meisten Vorlagen zu den Traufragen heißt es am Ende, direkt vor dem Fragezeichen, das auf eine Antwort wartet: "..., bis dass der Tod euch scheidet".  Manche Paare haben Probleme mit dem Satz, und ich kann das aus zweierlei Gründen nachvollziehen: 

Wir reden nicht gern über den Tod, weil wir nicht gern daran erinnert werden, dass wir sterben müssen - vor allem nicht an einem solchen Tag. 
Und: Wir sind es nicht mehr gewohnt, Entscheidungen für das ganze Leben zu treffen. Beruf, Krankenkasse, all das lässt sich wechseln - Partner oder Partnerin inklusive. Liebe lebenslänglich ist nicht mehr der Normalfall. Die meisten Menschen haben vor ihrer Ehe Beziehungen erlebt, die am Anfang für die Ewigkeit gemacht schienen und doch auseinander gegangen sind. Und sie kennen aus eigener Erfahrung oder dem persönlichen Umfeld Ehen, die an dem hohen Maßstab, den diese Frage anlegt, gescheitert sind. Ich habe großen Respekt vor den Paaren, die offen damit umgehen.

Ich bin trotzdem dafür, diese Perspektive in der Traufrage zu lassen, auch, wenn die meisten Gottesdienstagenden die Möglichkeit einräumen, den Satz mit dem Tod zu streichen. Zum Einen finde ich es wichtig, dass wir über den Tod reden - auch über unseren eigenen. In der Bibel bittet ein Mensch: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen - auf dass wir klug werden" (Psalm 90,12). Die eigene Sterblichkeit zu akzeptieren hilft, die Gegenwart als ein Geschenk und jeden Tag als etwas besonderes wahrzunehmen, bewusst zu leben und die wichtigen Dinge nicht unausgesprochen zu lassen. Ich glaube auch, dass es einer Beziehung eine Tiefendimension gibt, wenn man offen über die Ängste, aber auch Wünsche um den eigenen Tod herum sprechen kann.

Und, ja: Die Perspektive, die der Satz mit dem Tod mit sich bringt, legt einen hohen Maßstab an. Aber auch in der Multioptionsgesellschaft wächst Vertrauen zwischen Menschen dadurch, dass man sich einander vorbehaltlos verspricht, auch auf die Gefahr hin, dass auf dem gemeinsamen Weg noch Steine liegen, von denen man nicht sagen kann, ob man sie wegräumen oder wenigstens drum herum gehen kann. 

Mir ist ein besonderes Traugespräch in Erinnerung, das mir noch auf andere Weise die Augen geöffnet hat:

Ein ungewöhnliches Paar sitzt am Tisch. Beide sind über siebzig, seit langem verwitwet und seit einiger Zeit schwer verliebt. Jetzt wollen sie noch einmal heiraten und sich um das Kopfschütteln, das ihre Pläne bei Kindern, Enkeln und Gleichaltrigen hervorrufen, nicht kümmern. Als wir in die konkrete Gottesdienstplanung einsteigen, fällt mir die nicht mehr ganz so junge, dafür aber sehr resolute Braut ins Wort: "Und kommen sie nicht auf die Idee, die Sache mit dem Tod rauszulassen. Das ist uns sehr wichtig!" Ihr künftiger Ehemann, vom Typ her etwas bedächtiger als seine Braut, drückt ihre Hand und nickt. Bevor ich reagieren kann, fährt sie fort: "Ich habe meinem ersten Mann versprochen: Bis dass der Tod uns scheidet. Das Versprechen habe ich gehalten, denn mir war es ernst mit ihm. Aber deswegen bin ich jetzt auch frei. Und mit ihm", sie wirft ihrem Verlobten einen liebevollen Blick zu, "ist es mir genauso ernst." Sie guckt mich wieder an. "Sie sind so jung, vielleicht verstehen Sie das nicht. Aber keiner weiß doch, wie viel Zeit wir noch gemeinsam haben. Und wenn ich vorher sterbe, und mein Mann sich noch einmal verliebt - dann soll er mich loslassen können und genauso glücklich sein wie ich es jetzt mit ihm bin." Ihr künftiger Ehemann, vom Typ her, wie gesagt, etwas bedächtiger als sie, drückt ihre Hand und nickt. 


Wie findet Ihr den Satz mit dem Tod?

Dienstag, 9. April 2013

Naches fun Kinder


"Sie haben aber reizende Kinder! Wie alt sind die denn?"
"Der Anwalt ist vier, und die Ärztin wird sieben."

- Jüdischer Witz.

"Du, weißt du was?"
Eine piepsige Stimme reißt mich aus den Gedanken, als ich nach dem Kindergottesdienst in der Sakristei meine Siebensachen zusammenpacke. Die Stimme gehört Anton, einem vorwitzigen Viertklässler, der fast jede Woche irgendwo in der Mitte sitzt und jetzt im Türrahmen steht.
"Da ist ja der Seehund", kommentiere ich, und Anton grinst stolz. Noahs Arche, das war heute das Thema, und beim gemeinsamen Versuch, die Geräuschkulisse beim Beladen der Arche möglichst realistisch darzustellen, hat Anton in dieser selbst gewählten Rolle sogar die zahlenmäßig deutlich überlegenen Elefanten akustisch in den Schatten gestellt. 
"Weißt du was?" fragt er nochmal. Als ich den Kopf schüttele, sprudelt es aus ihm heraus:
"Wenn ich groß bin, will ich auch mal Pfarrer werden!" erklärt er aufgeregt.

In mir drin wird es warm. So ein gutes Kind. Obwohl, nee, eigentlich... Eigentlich denke ich etwas anderes: Yes! Es lohnt sich also doch! Traumreisen zum See Genezareth, Bibliologe, in denen wir alle als Jünger berufen werden, Speisung von fünftaus... oder eher fünfzig Kindern mit Fischstäbchen und Foccaccia, Wettrennen zum Grab Jesu, Predigtbattle über das Thema "Taufe" - die Kindergottesdienste des vergangenen Jahres rauschen an mir vorbei, vermischen sich in Gedanken mit solchen, die noch ausstehen: Das Fensterkreuz an der Front müsste doch massiv genug sein für die Befreiung des Paulus, und ein Korb wird sich auch finden lassen..? Meine Fantasie macht Luftsprünge ob all der Möglichkeiten und Chancen ganzheitlicher Methoden, zumal unter meiner professionellen Anleitung, deren Wirksamkeit mir Anton doch gerade auf so ergreifende Weise bestätigt hat. 

"Hey, ich hab dich was gefragt!" Ungeduldig zupft Anton mich am Ärmel und holt mich von den pädagogischen Höhenflügen zurück in die Sakristei. 
"Sorry... was denn?"
"Weißt Du auch, warum?" fragt er, offensichtlich zum zweiten Mal. 

In Gedanken nicke ich. Natürlich. Weil du hier erleben durftest, wie die Geschichten und Gestalten der Bibel lebendig wurden, dass auch du mit deinem noch so kurzen und kleinen Leben, deinen Höhe- und Tiefpunkten, deinen Fragen und Gedanken hier ernst genommen wirst. Weil du gelernt hast, dass Glauben Spaß machen und dem Leben Perspektive geben kann. 
Aber natürlich schüttele ich den Kopf. 
"Nein, warum denn?"

Anton macht es spannend, macht eine dramatische Pause. Dann erklärt er stolz: 
"Weil man dann auch als Erwachsener noch ganz viel Quatsch machen darf!"
Und rennt raus. 

Ich bleibe mit offenem Mund zurück. Kleiner Ignorant! "Quatsch", das sagen beratungsresistente ältere Kollegen, wenn man ihnen im Pfarrkonvent anbietet, mit ihnen Bastelmaterial zu tauschen, ihnen die Zugangsdaten für Online-Spieledatenbanken zu geben oder ihre Overheadfolien in Powerpoints umzuwandeln und so ihren Konfirmandenunterricht wenigstens ein bisschen zu pimpen. "Quatsch", das denkt sich vielleicht unsere Gemeindesekretärin, während sie meine Teilnahmebescheinigung für die Fortbildung Ecclesia ludens - praktische Theologie und theologische Praxis des Spiels an die Superintendentur faxt. 

Missmutig nehme ich meine Sachen und gehe durch die Kirche hindurch zur Eingangspforte. "Quatsch... von wegen", brumme ich missmutig vor mich hin, als ich die Tür von außen abschließe. Draußen auf dem Parkplatz vor der Kirche steht der Stadtjeep von Antons Mutter. Sie hockt vor der hinteren Seitentür, aus der zwei dünne Beine herausgucken, die sie in Stulpen quetscht. Beiläufig nickt sie mir zu, dann stöhnt sie genervt auf. "Jetzt macht voran, du musst zum Training", ruft sie in den Wagen hinein. Stimmt, Fußballtraining, das hatte Anton mal erzählt, immer sonntags nach dem Kindergottesdienst. Und Cellounterricht. Oder war es Klavier? Oder gar beides? Japanisch hätte er jetzt auch lernen sollen, "wegen der Entwicklungen auf dem Weltmarkt", wie seine Mutter bei einem Gespräch erklärte, aber dem hat eine Drei in Mathe ein Ende gesetzt, wegen der er privaten Förderunterricht erhält. "Bei einem promovierten Mathematiker", so versicherte seine Mutter, "wenn schon, denn schon, und was Hänschen nicht lernt..." 

Als ich im Auto sitze, sage ich noch einmal leise: "Quatsch." Und frage mich, wie viel Raum in Antons Woche dafür ist, wie oft er und die anderen neunjährigen Multitasker aus seiner Klasse einfach nur Seehund sein oder in Gedanken Steine über die Oberfläche des Sees Genezareth flitschen lassen dürfen. 

Montag, 8. April 2013

Welchen Wein empfehlen Sie denn?

Bei der Frage nach dem bevorzugten Getränk beim Abendmahl geht es meist ja um die Frage: Wein oder nicht Wein? Für die Verwendung von Traubensaft sprechen viele gute Gründe, während eher wenige wirklich dagegen sprechen - aber das soll hier gar nicht zur Debatte stehen. Hier geht es vielmehr um die Frage: Welchen Wein nehmen wir eigentlich? 

Das Thema kam auf nach einem Abendmahlsgottesdienst zu Studienzeiten, irgendwann vor fünf, vielleicht sechs Jahren. Wir saßen zusammen und unterhielten uns über die verschiedenen Tisch- und zum Teil auch, natürlich immer aus der jeweils anderen Sicht, Unsitten in unseren jeweiligen Gemeinden. Bei allen Unterschieden zeigte sich eine Gemeinsamkeit: In so gut wie allen Gemeinden, landauf und landab, zwischen Wuppertal und Halle, Kiel und Tübingen, wird Weißwein benutzt.

Nur - warum?

Die Frage hat mich verfolgt, sie ist auch immer mal wieder von Menschen in den verschiedensten Gemeinden gestellt oder, je nach Informationsstand und Perspektive, beantwortet worden. Ich halte manche spontan für aufschlussreicher als andere, und die nachstehende Auflistung ist kein Ranking, sondern entspricht zunächst in etwa der Reihenfolge, in der ich sie gehört habe. Aber diese Gespräche haben mir viel über die Gestaltung evangelischer Vielfalt hierzulande beigebracht: Eigentlich tun alle dasselbe - aber sie begründen es immer wieder anders:

(1) Wir benutzen Weißwein, um keine blutigen Assoziation aufkommen zu lassen. Wir teilen Brot und Wein, aber wir spielen nicht das Opfer Jesu nach.

(2) Zum Abendmahl tischt die Gemeinde traditionell das Beste auf, was Küche, Keller und Feld zu bieten haben. Und in deutschen Landen ist das eben Weißwein.
(2a) Weißwein ist ein einheimisches Produkt und deswegen preiswerter als die Importware Rotwein.
(3) Bei uns gibt es nichts anders als Weißwein, und zwar um der Treue der Überlieferung Willen: Denn Jesus hat das letzte Abendmahl mit Weißwein gefeiert - das Verfahren, durch das die Farbstoffe aus den blauen Trauben in den Wein gelangen und ihn rot machen, hat man zu Jesu Zeiten noch gar nicht angewandt.

(4) Die Decken und Tücher, die man auf den Abendmahlstisch legt, bestehen traditioneller Weise aus nicht ganz billigem Stoff. Um den zu schützen und sie nicht nach jedem verkleckerten Tropfen austauschen und waschen zu müssen, nimmt man Weißwein - da sieht man die Flecken nicht.

(5) Weißwein desinfiziert besser als Rotwein oder andere Getränke und tötet unerwünschte Bakterien und Mikroorganismen zuverlässiger ab. In Verbindung mit dem Abendmahlskelch aus Silber, der auch desinfiziert, dient das der Sicherheit der Kommunikanten.

(6) Rotwein hat oder hatte einen schlechten Ruf. Wer sich besaufen will, tut das eher mit Rotwein, den man mit Sinnlichkeit, Genuss, Maßlosigkeit verbindet - alles Untugenden, mit denen sich die fromme Gemeinde nicht einmal assoziativ beflecken will.

Soweit die Antworten, die ich bislang gehört habe - vielleicht fallen anderen noch mehr ein?

Demnächst mehr dazu an dieser Stelle!