Samstag, 20. April 2013

Als unser Chinese die Speisekarten abschaffte

- "Ich liebe die italienische Küche. Ossobuco ist mein absolutes Leibgericht!"
- "Für mich muss es französisch sein. Für so ein richtig gut gemachtes Coq au vin, da lasse ich alles andere stehen!"
- "Also ich esse ja sehr gern chinesisch. Am liebsten die M34."

Wer bei vorangestelltem Witzchen zumindest ganz leise "höhö" machen musste, kann ja nicht mehr ganz so jung sein. Denn: Wann habt Ihr das letzte Mal "beim Chinesen" eine Speisekarte in die Hand genommen? (Das richtige Hintergrundflair für den folgenden Beitrag gibt es übrigens hier oder hier!)

(c) R. B. / pixelio.de
Früher, jaahaa, da war das noch was anderes. In meiner Kindheit ging es, wann immer ein Anlass gefunden war, der aushäusiges Feiern rechtfertigte, "zum Chinesen", und zwar immer zu demselben. Das Lokal hieß wahrscheinlich "Chinesische Mauer" oder "Mandarin", allerhöchstens noch... nein, es war wohl die "Chinesische Mauer". Kaum durch die Tür, tauchte unsere in höchstem Grad mittel- und nordeuropäische Gesellschaft ein in eine fremde, exotisch anmutende Welt: Dunkle Auslegeware schluckte jedweden Trittschall, gefälliges Plingpling aus Klavieren an Streichersauce umschmeichelte die Ohren, dicke Goldfische mit Flossen wie Brautschleier schwebten durch ihre Aquarien, bestaunten die riesigen Panoramabilder mit blassbraunen Bergen und dem Namen gebenden Bauwerk im Morgennebel und träumten von der Heimat. Nicht minder dicke Buddhas aus (hey, ich war sechs) wahrscheinlich purem Gold mit breitem Lächeln auf dem zahnlosen Mund hießen uns Fremde willkommen, ihr prächtiger Bauch und die entspannte Körperhaltung riefen uns zu: "Hiel könnt ihl satt welden und flöhlich sein!" 

Von Glutamat hatte Ottonormalverbraucher noch nie etwas gehört. Filzhaarige Asienbackpacker in Batikshirts, die einen solchen Abend mit ungebetenen Vorträgen über ihre als charakterstärkende Individualreisen getarnten Hamstertouren und über echte chinesische Esskultur entzauberten, kannte man nur von Weitem. Und so brütete man, von derlei Gedanken unbeschwert, über den Speisekarten, nippte an dem giftgrünen Begrüßungscocktail und versuchte sich auszumalen, auf welche geschmacklichen Fernreisen man bei Gerichten mit so klangvollen Beschreibungen wie "Ente kantonesische Stil Glasnudeln und sieben Gemuse - vorsichtig sehr scharf" hoffen durfte. Ich bestellte allerdings nie die M34, bei mir musste es immer T87 sein.

Wo will ich eigentlich hin mit dem Ganzen? Ach ja. Irgendwann hörte ich auf, die T87 zu bestellen, weil unser Stammchinese sonntags das Mittagsbuffet einführte. Dem folgte das "große Spezialitätenbuffet an Sonn- und Feiertagen", das es dann in verschlankter Variante jeden Tag gab. Und irgendwann im Lauf der letzten zehn Jahre müssen so ziemlich alle Chinarestaurants der westlichen Welt nachgezogen haben.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal überhaupt eine Speisekarte in den Händen hatte, eben, weil es immer Buffet gibt, meistens noch unter der verheißungsvollen Überschrift All you can eat. Dass das vor allem bei deutscher Kundschaft zieht, dürfte wenig überraschen, bemisst sich doch hierzulande das Preis-Leistungs-Verhältnis einer Mahlzeit vor allem an ihrer Größe - wie sonst ist der Erfolg einschlägiger Webportale erklärbar wie etwa XXL-essen.de, dessen Betreiber sich der hehren Aufgabe gewidmet haben, solche Restaurants aufzulisten, die es dem anscheinend ständig darbenden und sich in Entbehrung verzehrenden Gast ermöglichen, endlich "satt zu werden. Und das nicht mit Beilagen, sondern hochwertigen [sic!] Mega-Portionen an Schnitzeln, Burgern, Currywurst & Co." Die Chinarestaurants folgen damit in schlichter Konsequenz dem Flatrate-Trend der letzten Jahre. Geiz ist bekanntlich geil, beim Telefonieren, Saufen und Frauenausbeuten - und beim Essen dann erst recht.

Auch aus Sicht der Gastronomen hat so ein Büffet unleugbare Vorteile, denn Einkauf und Zubereitung lassen sich besser planen: Spätestens nach einem Monat weiß man halt, dass man von den Bambus- und Mungbohnensprossen weniger einkaufen muss, dafür mehr Hummerkrabben, die der preisbewusste Deutsche sich gleich kellenweise auf den Teller häuft.

Natürlich hat dieser Siegeszug des Mittagsbuffets noch mehr Väter und Mütter, denn er hat viel mit dem Lebensgefühl einer ganzen Generation zu tun. Peter Gross hat dafür das Stichwort Multioptionsgesellschaft geprägt: Das Leben als ein einziges, großes All-you-can-eat-Buffet, die Chance, zu jeder Zeit genau das auszusuchen, nach dem mir der Sinn steht - und damit aber auch die andauernde Qual der Wahl. Ich will gar nicht über die modernen Zeiten lamentieren. Ich bin genauso froh, durch Geburt und Herkunftsmilieu nicht auf irgendeinen Lebensentwurf festgelegt zu sein, wie ich gern die Möglichkeit nutze, mir beim Chinesen, je nach Stimmung, mehr Fleisch oder mehr Gemüse auf den Teller zu laden und bestimmte Dinge erst einmal zu probieren. Dummer Weise ist diese Freiheit auch mit Stress verbunden, denn ich bin gezwungen, ständig zu überprüfen, ob das Gewählte noch meiner akuten Laune entspricht und meiner unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dient -  kein Wunder also, dass Entscheidungen, die einen auf eine gefühlte Ewigkeit festlegen, schwer fallen und fast antik anmuten. 

Allerdings - in der Gastronomie wird besonders deutlich, dass das Label "All you can eat" dann doch eher metaphorisch als realistisch gemeint ist, wie die Betreiber eines anonymen Chinarestaurants in den USA ihren Gästen auf äußerst charmante Weise klar machen:    

gefunden bei themetapicture.com

Was denkt Ihr? Wo liegen die Grenzen der Multioptionsgesellschaft? An welchen Stellen im Leben sind definitive Entscheidungen notwendig - und wie entgehen wir der Gefahr, die Selbstfestlegung zu verlernen, wenn wir nicht einmal mehr ein Essen im Restaurant bestellen? Und, es geht ja um Kirchengeschichten - wie können wir plausibel machen, dass bei aller postmodernen Flickschusterei der christliche Glaube auch eine Entscheidung kennt und vielleicht sogar braucht?

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