Wut ist nicht gut. Da sind sich eigentlich alle in sensationeller Übereinstimmung einig: Meine Nachbarin, die sich mit sowas auskennt und außerdem morgens und abends an meinem Küchenfenster vorbei kommt, meinte neulich, meine Aura hätte noch mehr Schlieren und Streifen und Flecken als meine Fensterscheiben. Da das Erkennen von Auren wie auch das Fensterputzen nicht zu meinen Kernkompetenzen gehören, habe ich nicht widersprochen: Sie wird mit beidem irgendwie recht haben. Mit den Fenstern sowieso, und ich muss auch zugestehen: Ja, ich ärgere mich ab und an.
Aber, wie man (oder Frau Nachbarin) sieht: Wut ist nicht gut, sie verdreckt die Aura, mein Hausarzt sagt, sie treibt den Blutdruck in die Höhe, und ich bin mir sicher, dass jede Suchmaschine nach nur wenigen Sekunden seitenweise Belege dafür ausspuckt, dass Wut nicht nur dick, sondern auch eine schlechte Haut macht. Wie gesagt, einig sind sie sich da alle. Übrigens, man soll ja immer vor der eigenen Haustür kehren, auch in der Kirche. Michael Klessmann, emeritierter Professor für Praktische Theologie, stellt dazu fest:
"Konflikte bilden eher den Normalfall als den Ausnahmefall überall da, wo Menschen zusammen leben und arbeiten. In der Kirche hat sich allerdings lange Zeit hindurch die Vorstellung gehalten, die Abwesenheit von Konflikt, Konkurrenz und Aggression sei der anzustrebende Idealzustand, der der christlichen Idee von der Gemeinschaft der Glaubenden am nächsten komme."
(M Klessmann, Pastoralpsychologie. Ein Lehrbuch, Neukirchen-Vluyn 2004, 269)
Wer schon einmal mit einem kirchlichen Gremium etwa eine unangenehme Personalentscheidung zu treffen hatte, wird wissen, was gemeint ist, wie schwer es sein kann, im Rahmen gemeindlich akzeptierter Verhaltensnormen Wut, Aggression und Frustration adäquaten Ausdruck zu verleihen. Endgültig schwierig wird es dann, wenn kirchliche Wutvermeidungsstrategien Eingang in Theologie und Frömmigkeit finden und damit legitimiert werden. Die Krux ist ja: Es gibt durchaus biblische Textstellen, die sich in diesem Sinne verstehen und als entsprechende Handlungsanweisungen lesen lassen, wie zum Beispiel Sprüche 17,14: Wer Streit anfängt, gleicht dem, der dem Wasser den Damm aufreißt. Lass ab vom Streit, ehe er losbricht! Auch der Satz, den Jesus zu seinen Jüngern sagt, wird in dieser Hinsicht oft und gern missbraucht: Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin (Matthäus 5,39).
Damit niemand was falsch versteht: Es gibt sicherlich Situationen, in denen ich mir diese beiden Sätze zu Herzen gehen lassen kann und soll. Ich persönlich könnte sie mir zum Beispiel im Auto irgendwo sichtbar ans Amaturenbrett kleben und einen kurzen Moment innehalten, wenn ich mich wieder schwarz ärgere, weil mir jemand die Parklücke weggeschnappt hat oder den Mittelstreifen auf der Autobahn blockiert. (Für alle Kölschkundigen: Dem Lied von Kasalla habe ich nichts hinzuzufügen!) Also ganz im Rahmen einer ADAC- und StVO-kompatiblen Frömmigkeit: Wer mir die Vorfahrt nimmt, kann meinentwegen auch den Parkplatz haben. Das alles sind Dinge, über die das Aufregen in der Tat nicht lohnt.
Problematisch wird es aber dann, wenn man unter dem Deckmantel christlicher Ethik berechtigte Wut zu unterdrücken versucht. Du sollst Vater und Mutter ehren, steht bekanntlich in den zehn Geboten, aber der Volksmund hat sich seinen notwendigen Reim darauf gemacht: Und wenn sie dich schlagen, sollst du dich wehren! Notwendiger Reim deshalb, weil es Familien und Familienmodelle gibt, in denen genau dieser (verkürzte und damit verfälschte) Halbsatz aus den zehn Geboten dazu dient, körperlich oder seelisch gewaltsame Erziehungsmethoden jeder berechtigten Kritik zu entziehen.
Das ist ein extremes Beispiel, es gibt auch weichere Varianten christlicher Appeasementfrömmigkeit: Wer den biblischen Psalter mit den in unseren evangelischen Gesangbüchern abgedruckten Psalmen vergleicht, der wird feststellen, dass da einiges fehlt. Ganze Psalmen, wie etwa Psalm 59, sucht man dort vergebens, weil man die Deftigkeit in Sprach- und Bildwelt keiner gutbürgerlichen Gemeinde zumuten möchte, die sich sonntags in erbaulicher Absicht versammelt. Ich will gar nicht abstreiten, dass nicht alle Erfahrungen, die im Hintergrund eines solchen Psalms zu vermuten sind, von jeder und jedem gleich nachvollziehbar sind. Aber wenn wir diese Traditionen verschweigen, dann verschweigen wir auch, dass die Bibel den Opfern von körperlicher und seelischer Gewalt eine Hilfe anbietet, ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen und nicht daran zu ersticken.
Und noch mehr: Es gibt eine biblische Geschichte, die berechtigte Wut in den Rang eines göttlichen Geschenks, einer Gabe des Geistes Gottes erhebt. Im 1. Samuelbuch wird erzählt, wie ein kriegerischer König (bezeichnender Weise mit Namen Nachasch, sprich Schlange - nomen est also doch omen) seine militärische Überlegenheit auf eine besonders schäbige Art und Weise ausnutzt: Er belagert eine Stadt, und deren Einwohner bieten ihm angesichts der aussichtslosen Lage die Kapitulation an. Nachasch willigt ein, allerdings unter der Bedingung, dass er jedem von [ihnen] das rechte Auge ausstechen und damit Schande bringen kann über ganz Israel. Diese Art von wohl durchdachter und deswegen besonders widerlicher Barbarei, die Demütigung eines unterlegenen Gegners durch sadistische Gewalt an der Zivilbevölkerung, ist kein Phänomen der Antike geblieben, sondern findet auch heute noch im Rahmen von Kriegen, Bürgerkriegen und so genannten ethnischen Säuberungen statt, aber das nur als Randnotiz. Die belagerte Stadt jedenfalls sendet daraufhin Boten aus. Einer davon erreicht den späteren König Saul, und in der Bibel steht an dieser Stelle der denkwürdige Satz:
Und als Saul diese Worte hörte, durchdrang ihn der Geist Gottes, und sein Zorn entbrannte heftig.
Saul wird wütend und zwar, das finde ich das Bemerkenswerte, nicht bereits, nachdem er von der Kriegstreiberei gehört hat, sondern nachdem ihn der Geist Gottes durchdrungen hat. Das macht seine Wut zu mehr als einer verständlichen Reaktion, das macht sie zu einem Geschenk, einer Gabe, so paradox das beim ersten Hören klingen mag. Aber es ist eine grundlegende Einsicht der Bibel, dass der Mensch mit einer ganzen Menge Tomaten auf den Augen und Brettern vor dem Kopf durch die Gegend stolpert und darum Hilfe braucht: Hilfe, zu verstehen, die eigene Lage einschätzen zu können - oder eben Grausamkeit als solche zu erkennen und zu benennen.
Das allein ist sicherlich nicht der Weisheit allerletzter Schluss. Nicht jede aggressive Regung in mir macht mich gleich zum Propheten, vor allem nicht, wenn ich am Steuer sitze. Und nicht jede Schimpftirade, die mir so im Laufe des Tages über die Lippen rutscht, ist angemessen oder begründet. Aber auch, wenn es mir die Aura bekleckert und den Blutdruck hochtreibt: Berechtigte Wut ist nicht nur gut, sondern auch wichtig - und eins von den Geschenken Gottes, von dem wir vielleicht oft vergessen, woher und wofür sie haben. Denn berechtigte Wut über soziale Ungerechtigkeit, über individuelle oder strukturelle Gewalt, über unnötiges Leid ist der Anfang einer jeden Revolution - und wenn es nur im Kleinen ist und irgendwo an irgendeinem Tisch ein Mensch nach jahrelangem Schweigen mit der Faust auf den Tisch haut und endlich sagt: Stopp!
Ich bin ja nur froh, dass die Psalmen (mit allem, was sie an menschlichen Regungen aufzubieten haben) fester Bestandteil des Lehrplans für Religionsunterricht in Grundschulen sind. Ich freue mich, diese Gefühlswelt im nächsten Monat mit den Kleinen zu entdecken!
AntwortenLöschenIm Übrigen bin ich schon seit langem nicht mehr angetan von der Psalm"auswahl" im Evangelischen Gesangbuch...aber jedes Mal Kopien zu verteilen, nur damit die Gemeinde den ganzen Psalm mitsprechen kann?? Ich weiß nicht... Meine (mich nicht ganz zufriedenstellende) Lösung: Ich spreche den Psalm (im biblischen Wortlaut oder als Übertragung, z.B. von H.D. Hüsch oder A. Stadler) alleine. Aber das geht dann manchmal am Sinn vieler Psalmen vorbei, die kein fürbittendes Gebet eines Einzelnen Liturgen sind. Aber was soll man machen?
Hey und danke für den Kommentar!
AntwortenLöschenIch würde sagen: Die kirchliche Karriereleiter schnell erklimmen und einen Platz in der nächsten Gesangbuchkommission sichern!
Und für die Zwischenzeit - vielleicht ist das nichts, was man als Liturg_in allein entscheiden und stemmen kann oder muss? Vielleicht kann man sich mit einem Teil der Gemeinde auf einen gemeinsamen Lernweg begeben, in verschiedenen Gruppen und Kreisen Psalmen erkunden - und dann gucken, welche Türen sich öffnen, an die man selbst nicht gedacht hat?
Gerade für Grundschulkinder gibt es ja sehr schönes Material von Ingo Baldermann ("Wer hört mein Weinen") - würde mich nicht wundern, wenn man das Eine oder Andere nicht auch in der Gemeinde anwenden könnte...